Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
ein Briefchen zu, in dem Amadeus mich anflehte, ihn im Garten hinter dem Haus an einer alten Eiche zu treffen, weil er sonst den Freitod in der Havel suchen müsste. Ich fühlte mich erpresst, konnte ihm jedoch den Wunsch nicht abschlagen, und so folgte ich Friedrich und schlich mich durch den Dienstboteneingang in den Garten hinaus, wo ich im Lichtschein, der aus den Fenstern des festlich erleuchteten Hauses fiel, eine Gestalt am Stamm einer alten Eiche lehnen sah. Amadeus!
Mein Herz begann zu rasen und die Sehnsucht zogmich auch heute wie eine willenlose Marionette an einem Band zu ihm hin.
Ich hob die Röcke meines Hochzeitskleides und hastete mit schnellen Schritten über den gefrorenen Rasen zu ihm und sogleich lagen wir uns wie Ertrinkende in den Armen und saugten einander den Atem ab, um nur ja wieder eine Zeit lang leben zu können. Auch wenn mir jeder Kuss, jede Berührung von Amadeus höchste Wonne bereitete, so war doch meine Angst ebenso groß wie meine Sehnsucht, und ich flehte ihn an, mich zu lassen und schnellstens zu verschwinden. Doch immer wieder und wieder küsste er mir Gesicht und Dekolleté und trieb mit jeder Berührung heiße Schauer über meinen Körper. Schließlich stieß ich ihn, weil er keinem rationalen Argument zugänglich war, in höchster Erregung von mir und floh zurück ins Haus, geradewegs dem Radke in die Arme.
Das heißt, er stand am Treppenaufgang vor der Dienstbotentür, durch die ich hocherhitzt und derangiert hereinstürzte.
Ich starrte ihn gewiss vollkommen erschüttert an, denn nicht nur war mein Aussehen verräterisch, sondern auch die Begegnung völlig unerwartet und ich stand ihm gänzlich ungeschützt gegenüber. Wenn er nur etwas mehr von mir als einen Schatten in jener Nacht am Montmartre gesehen hatte, so musste er mich jetzt erkennen. Aber wenn dem so war, ließ er es sich nicht anmerken, vielmehr meinte er nur mit listigem Augenzwinkern und in unangenehm anbiedernder Manier: »Ein wenig Luft geschöpft, Frau Utz? Ihr solltet nicht so laufen, die Hitze steht euch in den Wangen.«
Ich zuckte zusammen und fragte mich sogleich, was er gesehen hatte? Wenn er mich laufen sah, so war ihm dochhoffentlich Amadeus verborgen geblieben. Dennoch beschloss ich blitzschnell, was immer er bemerkt hatte, mit einem kleinen Schwips zu entschuldigen, der mich die Contenance und Etikette hatte vergessen lassen. Ich rülpste zweimal leicht und flötete mit gespielt verschämtem Unterton: »Ich weiß gar nicht, wer oder was mich hinausgeführt hat, vermutlich die Hitze hier drinnen, doch bin ich froh zurück zu sein …« Und um wie eine gute Gastgeberin zu erscheinen, fragte ich mit einem beschwipsten Kichern: »Ich hoffe, Ihr amüsiert Euch und sprecht fleißig dem Champagner zu … ich kann ihn sehr empfehlen …«
Mit einer Entschuldigung lief ich an ihm vorbei die Treppe hinauf zu meiner Zimmerflucht, wo ich in meinem fürstlichen Bad das Gesicht wusch, die Schminke auffrischte, die Haare richtete und mein Kleid ordnete. Die roten Flecken auf Hals und Dekolleté verdeckte ich mit Puder, und als ich einen letzten Blick in den Spiegel warf, waren die Spuren meines Tête-à-Tête mit Amadeus kaum noch zu erkennen.
Dass so viel Renovierungsarbeit nötig war, machte mir jedoch noch einmal schrecklich bewusst, in welch eindeutigem Zustand Radke mich gesehen hatte, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass er, als Reporter mit einem guten Auge ausgestattet, nicht eins und eins zusammenzählen konnte. So blieb mir nur, auf seine Diskretion zu hoffen und darauf, mich allenfalls für eine unter Alkoholeinfluss leichtsinnige Person zu halten, aber nicht mit den Serienmorden oder gar einem Ehebruch in Verbindung zu bringen.
Ich schaute noch einmal in den Spiegel und war alles andere als zufrieden, denn der Schock über die Begegnung mit Radke stand mir noch allzu deutlich ins Gesichtgeschrieben. Auch war ich wütend über Amadeus und sein unbedachtes und riskantes Auftauchen auf dem Anwesen von Utz an dessen Hochzeitstag. Das war gegen alle Absprachen und er brachte nicht nur mich dadurch in arge Verlegenheit, sondern auch sich in höchste Gefahr.
Zwar hatte ich mit ihm zusammen den Plan gefasst, unser Verhältnis nach der Hochzeit heimlich fortzuführen, doch hatte ich mich darin vermutlich überschätzt. Die Worte des Pastors und auch Utz’ sehr zuvorkommendes Verhalten hatten mich zutiefst beschämt, und ich begann mich noch in der Hochzeitskutsche vor mir selbst zu ekeln, weil
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