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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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verteilen, ganz wie es auch die karitativ eingestellten, beschäftigungslosen Frauen des Adels und des Bürgertums taten. Freilich eher bei Tag.
    Berlin hatte sich seit der Jahrhundertwende zu einem Moloch entwickelt, der immer mehr Menschen aus dem Umland, ja aus ganz Deutschland anzog. Die Einwohnerzahl war mittlerweile auf mehrere Millionen angewachsen, und die meisten dieser Menschen fanden Arbeit in der sich mit rasender Geschwindigkeit entwickelnden Industrie, aber es gab sowohl Engpässe in der Versorgung der Bevölkerung mit preiswerten Lebensmitteln als auch im Hinblick auf menschenwürdigen Wohnraum. Zwar schossen die Mietskasernen mit erstem, zweitem und gar drittem Hinterhaus in einer extrem verdichteten Bebauung wie Pilze aus dem sandigen Boden, doch konnte der Baufortschritt dennoch nicht mit dem starken Zuzug Schritt halten und die Zustände waren teils katastrophal. GanzeFamilien der Arbeiterklasse teilten sich mit fünf und mehr Personen ein feuchtes Zimmer, in dem sich alle um den Kohleofen scharten, der zugleich Kochstelle und einzige Wärmequelle war. Schlecht isolierte Ofenrohre und Abzüge vergifteten immer wieder diese Kleinstwohnungen mit den Abgasen des Feuers und forderten besonders unter den Kindern viele Opfer durch den Erstickungstod. Heizte man nicht, weil es an Geld für Koks fehlte, befiel Schimmel die Wände, da im Winter auch die nasse Wäsche in dem einen Zimmer zum Trocknen hing. Die Folge waren Haut- und Lungenkrankheiten bis hin zur Schwindsucht. Oft hatten diese Familien nur einen Verdiener und gaben den spärlichen Raum in ihrer Behausung auch noch an Schlafgänger weiter, die nachts arbeiteten und tags gegen Geld ein Lager erhielten, weshalb den Kindern am Tag bei jedem Wetter als Lebensraum nur die Straße und der Hinterhof blieben.
    Heinrich Zille, ein korpulenter Fotograf und Maler, mit groben Zügen und einem wuchernden Bart, der sein halbes Gesicht bedeckte, skizzierte in vielen Milieustudien das Leben dieser Menschen. Ich traf ihn manchmal in seinem Stammlokal, wo er viel Bier trank und eifrig Porträtstudien schwangerer Frauen anfertigte, die ohnehin schon an jeder Hand ein Gör mit sich schleppten und für ihren »Ollen ’ne Molle Bier« und Tabak holen kamen. Er beobachtete sehr genau und liebte die Menschen, die er porträtierte, doch als ich ihn auf das soziale Elend ansprach, wollte er davon nichts wissen. Mit lockerem Strich hielt er es fest, aber er schien mir kein politischer Mensch zu sein und gar nicht zu ahnen, welchen sozialen Sprengstoff seine Bilder enthielten. Zille arbeitete bei der »Photografischen Gesellschaft« am Dönhoffplatz, die Malerei allerdings hatte er sich als Autodidakt selbst beigebracht und war noch dabei,seinen Stil zu finden. Er malte aus Leidenschaft, glaubte jedoch nicht, damit jemals seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Denn obwohl er schon auf die fünfzig zuging, war er sich über den künstlerischen Wert seiner schlichten, warmherzigen und humorvollen Skizzen des Berliner Milieus selbst sehr unsicher. Wenn er viel getrunken hatte, war sein Humor sarkastisch und bitter und oft genug hörte ich ihn darüber klagen, wie er an seiner Arbeitsstelle ausgebeutet werde und dass dennoch die Entlassung als ständige Drohung über den Köpfen der Gesellen hänge.
    »Ohne die Leute hier und meene Bilder wäre icke längst zujrunde jejangen«, verriet er mir, und dann kam ein kleines Mädchen und steckte ihm eine Mark zu und sagte einen schönen Gruß von der Mutter, ob er mal »een Bild« von ihr malen könne, für die Großmutter, die auf dem Lande lebe.
    Da strich er der Kleinen über das Haar und warf mit besoffenem Kopf und sicherer Hand ihr hübsches Gesichtchen aufs Papier und vergaß auch nicht den Schmutzfleck auf ihrer Nase, den die Mutter für die Oma gewiss lieber nicht dort gehabt hätte. So war er nun einmal, er malte die Dinge, wie sie waren, ohne sie zu beschönigen, aber auch ohne sie hässlicher zu machen.
    Ab und an steckte ich ihm etwas zu und so kam ich eines Nachts ebenfalls in den Genuss, von ihm porträtiert zu werden. Ich bedankte mich herzlich und nahm das kleine Bild an mich, um es Amadeus zu schenken. Es zeigte ein sehr blasses, damenhaftes Gesicht, mit hohen Wangenknochen, großen dunklen Augen und einem sinnlichen Mund unter einem schwarzen Hut. Es zeigte tatsächlich mich.

    Die Luft in diesen Wohnquartieren war kein bisschen sauberer als in den Industrievierteln, und der Ruß schlug sichüber ganz

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