Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
hörte mir an, wie glücklich jeder war.
Spät in der Nacht wurde getanzt … und noch mehr getrunken … gesungen … sie konnten alle die Hits der westdeutschen Hitparade auswendig … ich kannte nicht einen Song aus dem Osten. Später kamen dann die Prinzen … auf leisen Sohlen … wie die Sandmännchen, von denen sie sangen … nein … nicht das DDR-Sandmännchen … die Sandmännchen, die den Schlafsand bringen … von den Ostseestränden, dachte ich immer, wenn ich das hörte … da war ich schon Mutter eines Wiedervereinigungskindes. Vater unbekannt …
Es war die Nacht, in der jeder glaubte, alles wäre möglich,dabei aber nicht an Verhütung dachte. Ich sowieso nicht, denn ich … ich hatte Probleme mit Männern … seit damals … Die DDR war schuld und das System, so habe ich es immer empfunden … Vielleicht war es aber auch nur ein Einzelner, der die Weisungen des Systems falsch ausgelegt hatte … Er war eine Bestie … ein Unmensch … ein Satan … Ich kann an ihn nicht als an einen Menschen denken … Ich kann meine Gefühle nicht in den Griff kriegen … auch heute noch nicht, wo es diesen Staat nicht mehr gibt … die Jugendwerkhöfe aufgelöst sind … viele Täter zur Verantwortung gezogen wurden … Es heilt meine Verletzungen nicht … und dann diese Bluttat … Wir mussten fort danach von Blankensee …
Ich hätte kein Kind von einem DDR-Bürger gewollt … Darum habe ich auch nie nach deinem Vater gesucht, Louisa … vermutlich wäre er auch unauffindbar gewesen … vielleicht war er sogar schon verheiratet … für mich gar nicht frei … Was konnte er für den Überschwang dieser Nacht? Warum sollte ich ihn dafür verantwortlich machen? Verstehst du, ich dachte, ich schaffe das auch allein. Ich wollte es alleine schaffen.
Ich war immer ein religiöser Mensch, und so habe ich Gott gedankt, dass er mich doch noch Mutter werden ließ, ohne dass ich dafür einen Mann an meiner Seite ertragen musste … Ich habe mit Bruder Antonius gebetet und mein Schicksal angenommen … und du, Louisa, bist ein anständiges Mädchen geworden, das seinen Vater nie vermisst hat. Das stimmt doch, Louisa, nicht wahr? Du hast doch nichts vermisst?«
Ich nickte, obwohl es gelogen war. Manchmal hätte ich gerne einen Vater gehabt … sehr gerne sogar …
»Und du … du weißt wirklich gar nichts von ihm? Von meinem Vater, meine ich, gar nichts?«
Unbewusst hatte ich immer geglaubt, dass er eines Tageseinfach vor der Tür stehen oder mich im Fernsehen bei »Vermisst« suchen lassen würde … Aber er wusste ja genauso wenig von mir wie ich von ihm … zu wenig, um sich finden zu können … nach über zwanzig Jahren.
Und mehr Informationen gab es einfach nicht, wie ich nun erfuhr.
»Ich war betrunken, als du gezeugt wurdest, ja, ich hatte mich fortreißen lassen von der allgemeinen Euphorie … aber du musst mir glauben, ich habe es nie bereut.«
Sie sah mich sehr liebevoll an und griff nach meiner Hand.
»Als du geboren wurdest, Louisa, war bereits klar, dass die DDR in der BRD aufgehen würde. Meinetwegen hätte man sie vollkommen eliminieren können. So wie ich die Jahre meiner Kindheit jenseits der Mauer aus meinem Gedächtnis entfernt hatte. Ohne das hätte ich nicht überlebt.
Auch so überfielen mich immer wieder Depressionen, besonders als meine Mutter Lysette in die USA ging. Sie behauptete, sie wolle nach Onkel Friedrich und Tante Klara suchen, die unter dem Naziregime über die Schweiz in die USA geflohen waren. Aber bald bekam ich die Einladung zu ihrer Hochzeit. Ich flog nicht rüber, mir fehlte nicht nur das Geld, sondern auch die Energie zu einer so weiten Reise. Mein Hinkefuß behinderte mich. Sie schrieb noch einige Male, zog dann mehrmals um und ich verlor sie schließlich aus den Augen. Keine Ahnung, ob sie überhaupt noch lebt.
Ich glaube, sie war kein … normaler Mensch, und ich bin mir sicher, dass ich es ihr zu verdanken hatte, dass wir nach diesem … Zwischenfall … das Gut verließen und wieder nach Berlin zogen …
Mein Vater leitete damals die LPG und wäre wohl freiwillig nicht fortgegangen. Der Umzug nach Berlin war meine Rettung, keinen Tag länger hätte ich es auf Blankensee ausgehalten, ohne mich in den See zu stürzen!«
Sie schwieg erschöpft nach dieser atemlosen Rede, die mir eigentlich nur neue Rätsel aufgab, statt zu erklären, warum sie eine solche Abneigung gegen das Gut hegte. Doch mir war klar, dass ich mehr nicht aus ihr
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