Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
herausbringen würde. Ihre inneren Verletzungen waren so offensichtlich, dass es mir herzlos und egoistisch erschien, nur aus persönlicher Neugier weiter daran zu rühren. Jedenfalls nicht jetzt.
Vielleicht würde irgendwann der Moment kommen, wo ich sie doch dazu bewegen konnte, mit mir nach Blankensee zu fahren und endlich mit der Vergangenheit abzuschließen. Noch schien mir das aber ein weiter Weg zu sein, und ich kannte mich zu wenig mit Traumata aus, um ihr eine wirkliche Stütze zu sein.
»Willst du nicht einmal mit einem Therapeuten über alles sprechen?«, fragte ich vorsichtig.
Aber sie blockte ab. »Rausgeworfenes Geld, das ich außerdem nicht habe.«
Sie sah mich mit einem tieftraurigen Blick an. »Ich sehe, dass ich dich von deinen Plänen nicht abbringen kann, ich will es auch nicht mehr. Für einen Streit mit dir fehlt mir die Kraft. Ich wünsche dir viel Glück, aber mich erwarte niemals auf Blankensee.«
Ich stand auf und verabschiedete mich. Dabei dachte ich, dass dazu das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
a
ls ich nach erfolgter Besitzüberschreibung zum ersten Mal mit einer Flasche Champagner in der Motorradtasche als »Gutsherrin« das Gut besuchte und mit Marc die Gebäude nun etwas gründlicher in Augenschein nahm, weckte das in mir sehr widerstreitende Gefühle. Einerseits begeisterte mich das trotz der sichtbaren Verfallsspuren immer noch noble Gebäudeensemble und das herrlich am See gelegene Grundstück und wir stießen darauf auch sehr optimistisch und fröhlich an. Andererseits aber löste die Besichtigung der Innenräume eine Bedrückung, ja, an einigen Stellen sogar regelrechte Anfälle von Klaustrophobie bei mir aus und ich musste mehr als einmal sofort ins Freie, um das schreckliche Gefühl loszuwerden, auf der Stelle zu ersticken.
»Es ist der Modergeruch, Loulu. Glaub mir, manche Menschen reagieren auf Schimmelbefall allergisch. Das äußert sich dann genau wie bei dir in Atemnot und Beklemmung.«
»Schön zu wissen«, sagte ich noch immer unter dem erschreckenden Eindruck stehend, dass mir jemand systematisch und erbarmungslos die Luft abgedrückt hatte.
Doch ich musste Marc schließlich recht geben, nach einer Renovierung würde das Phänomen gewiss verschwinden und alles bestens sein.
Dennoch wunderte es mich, dass ich diese Atemnot am stärksten im Flur vor den Toiletten des Haupthauses und in den Räumen des Westflügels verspürte, und dass sie mit einem sehr extremen Gefühl von Bedrohung verbunden war.
Besonders unangenehm empfand ich die Besichtigung des Westflügels. Hier war offensichtlich der »Jugendwerkhof« untergebracht gewesen. Es gab einen großen Raum,der vermutlich als Gemeinschaftsraum fungiert hatte, vier mittelgroße, nach Geschlechtern getrennte Schlafsäle, in denen noch ein paar verrostete Stockbetten an den Wänden standen, und Dusch- und Toilettenräume für Jungen und Mädchen. Alles relativ spartanisch ausgestattet. Komfortabler wirkten da schon einige kleinere Zimmer mit Waschbecken und ein Appartement mit Dusche und Toilette – offenbar die Wohnung des Heimleiters und die Zimmer der Jugendpfleger, Erzieher, Sozialarbeiter oder wie immer ihre Bezeichnung seinerzeit in der DDR gewesen sein mochte.
Ich dachte gerade darüber nach, was für Jugendliche man wohl in diese Einrichtung geschickt hatte, als mir unvermittelt die Worte meines Geschichtslehrers einfielen. Er hatte uns berichtet, dass man in der damaligen DDR auch viele Jugendliche weggesperrt habe, die durch nichts anderes als unangepasstes Verhalten aufgefallen seien, zum Beispiel weil sie Westkleidung trugen und Westmusik hörten, und deren Eltern als Regimegegner in Misskredit standen. Die Zustände in einigen der Jugendwerkhöfe seien zum Teil haarsträubend gewesen.
Marc nickte, als ich ihm davon erzählte.
»Ja, Sippenhaft war gang und gäbe in diesem Staat.«
Er war schon auf dem Weg nach draußen, als mir plötzlich total elend wurde. Die Atmosphäre drückte mich nieder, und vor meinen Augen waberte plötzlich ein Nebel, aus dem mich blasse, zerschlagene Gesichter ansahen und verarbeitete Hände anklagend mit ihren gebrochenen Finger auf mich deuteten.
Gleichzeitig hörte ich leises Weinen und herzzerreißendes Schluchzen, und über diesen jungen Stimmen lag ein dunkles, wollüstiges Stöhnen, das aus der Tiefe der Erde zukommen schien. Wie das Grunzen einer Bestie, die dabei war, ihre archaischen Triebe an einem ihrer Opfer zu befriedigen, bevor sie es
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