Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
später Lysette und Robert im Rosengarten bei einem Schäferstündchen überraschte, musste ihr der Anblick des verliebten Pärchens einen solchen Stich ins Herz versetzt haben, dass ihr Verstand völlig auf der Strecke blieb. Jedenfalls berichtete Lysette, dass Gertrud Robert angeschrien und einen Feigling geschimpft habe. Er würde sich der Pflicht, das Vaterland gegen die Bolschewiken zu verteidigen, schnöde entziehen, während tapfere Deutsche wie Alfred und ihre anderen Söhne sich dem Feind entgegenwerfen würden und ihr Leben gäben, um das Reich vor der roten Flut zu schützen.
Robert hatte das nicht schweigend hingenommen, sondern ihr aus tiefster anarchistischer Seele ziemlich aufgebracht geantwortet. Wobei von seiner Seite wohl das Wort von »Naziverbrechern« fiel, welche das Volk zugrunde richten und die besten Söhne Deutschlands in sinnlosen Kriegen verheizen würden.
Zwei Tage nach diesem Vorfall wurde Robert von Feldjägern abgeholt und bereits am Tag darauf mit einem Truppentransport per Bahn an die Ostfront geschickt.
Lysette war fast wahnsinnig vor Schmerz und Wut, und ich musste sie mit aller Macht davon abhalten, sich auf Hansmann und Gertrud zu stürzen und gegen sie tätlich zu werden. Wie ein gefangenes Tier rannte sie im geheimen Gewölbe umher, die Zähne gefährlich spitz aus dem Kiefer ragend, bereit, jeden, der ihr zu nahe kam, zu beißen. Nur allmählich beruhigte sie sich wieder und untermeinem guten Zureden nahm sie schließlich Vernunft an. Doch noch am selben Abend machte sie sich auf, um dem Zug in den Osten zu folgen.
»Ich werde Robert nicht im Stich lassen«, sagte sie. »Aus dem Osten hört man nichts Gutes. Ich habe Kräfte, die ihm helfen können. Vielleicht gelingt es uns, noch vor dem Erreichen der Front zu fliehen. Dann schlagen wir uns zu Friedrich und Klara in die Schweiz durch.«
Das klang zwar vernünftig, war aber tatsächlich ein Himmelfahrtskommando! So versuchte ich meine Tochter davon abzuhalten, aber als sie sagte: »Dann geh davon aus, dass ich Onkel Hansmann und Tante Gertrud bei nächster Gelegenheit umbringe«, gab ich schließlich nach. Ich stattete sie mit etwas Gold aus dem Bankraub bei Utz aus und gab ihr noch ein paar wichtige Verhaltensregeln mit auf den Weg. Aber sie war nun schon so weit mit ihrer vampirischen Natur vertraut, dass sie die nötige Vorsicht walten ließ.
So blieb mir nur, auf ihren Überlebenswillen zu hoffen und auf die Kraft der Liebe zu vertrauen, die alles möglich machte.
»Ich wünsche dir, dass du Robert findest und dass ihr euch beide retten könnt. Meine Gedanken sind bei euch.«
Ich küsste sie zum Abschied und mit einem kleinen Rucksack über der Schulter lief sie davon. Schnell wie ein Gepard, lautlos wie ein Schatten.
Ich unterbrach einen Moment meine Lektüre und stützte das Kinn nachdenklich in meine Hände. Großmutter Lysette sollte eine Vampirin
gewesen sein? Das klang mir doch gar zu fantastisch. Gehetzt las ich weiter.
Blankensee, im Januar 1943
Man hört von schrecklichen Verlusten an der Ostfront. Die 6. Armee soll von den Rotarmisten bei Stalingrad eingekesselt sein. Ich hoffe, dass Robert mit Lysettes Hilfe desertieren konnte, bevor seine Einheit die Front erreichte.
Hansmann und Gertrud sind unversöhnlich und nur noch voll Hass auf jeden, der nicht wie sie Opfer in diesem Krieg zu betrauern hat. Auch Wilhelm gilt nun als vermisst. Er soll mit seiner Stuka über England abgeschossen worden sein.
Ich habe Angst um Lysander und lasse ihn nicht mehr aus dem geheimen Gewölbe. Hansmann denkt, er wäre tot, darum darf er ihn niemals zu Gesicht bekommen.
Aber noch mehr fürchte ich Utz. Er ist ein hohes Tier bei der SS, und ich kann nicht glauben, dass er uns auf Dauer in Ruhe lassen wird. Wie glücklich wäre ich, wenn dieser unselige Krieg endlich vorbei wäre und damit auch der Nazispuk enden und die Familie wieder auf Blankensee vereint sein würde.
Amanda
Das war die letzte Aufzeichnung von Amanda und in einer eher kindlichen Schrift wurde die Chronik nun von Amandas Tochter Lysette, also meiner Oma fortgeführt.
Es interessierte mich natürlich brennend, hier vielleicht etwas mehr über ihr Schicksal zu erfahren, denn meine Mutter war in der Hinsicht sehr wortkarg. Natürlich hoffte ich auch weiterhin, dass etwas über meine Mutter in dieser Chronik stand.
Von Estelle, Amanda, Conrad und Lysander hatte meine Mutter nie etwas erzählt, aber von meiner Großmutter Lysette wusste
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