Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
ich ja immerhin, dass sie in den Sechzigerjahren in die USA ausgewandert war. Ich hätte sie gerne damalsbesucht, als alle meine wohlhabenden Mitschüler ein Auslandsjahr machten. Aber meine Mutter meinte, dass sie nicht einmal sagen könne, ob sie noch lebe.
»Wollen wir nicht einmal Nachforschungen anstellen?«, hatte ich damals vorgeschlagen. »Sie ist schließlich deine Mutter und ich finde eine Großmutter in den USA ziemlich cool. Vielleicht lädt sie mich mal ein.«
Aber meine Mutter wehrte diesen Versuch der Familienzusammenführung ziemlich schroff ab, und da ich damals in der Pubertät war und mich wichtigere Themen als verschollene Großmütter beschäftigten, verblieb die Sache schließlich. Darum war es aber auch besonders spannend für mich nun Lysettes Eintragungen in der Familienchronik zu lesen.
Ich trug die Uniform einer Krankenschwester, darüber einen dunklen Mantel. Mein Lauf war schnell und lautlos, doch ich erreichte den Zug mit Robert nicht mehr. So schmuggelte ich mich an einer Bahnstation in einen der nächsten Truppentransporte, die nach Osten fuhren, und hoffte, dass der den gleichen Weg nehmen würde wie der Zug, der mir Robert entführt hatte.
Wir waren lange unterwegs, bis wir unseren Bestimmungsort erreichten. Es war im Dezember 1942, wenige Tage vor Weihnachten, und die Stimmung unter den Soldaten war gedrückt. Nichts von Kriegsbegeisterung oder Hurra-Patriotismus. Ein Schreckgespenst ging um in den Waggons und das hieß »der Bolschewik« und seine »Rote Armee«.
Es waren fast alles noch Jungs, die da in ihren dünnen Uniformen schlotterten, gleichermaßen vor Kälte und vor Angst. Sie kamen aus Belgien und gehörten zur 306. Infanteriedivision, diefast komplett an die Ostfront nach Stalingrad verlegt wurde, als Entsatz für die 6. Armee unter General Paulus, die – wie gemunkelt wurde – in verlustreichen Kämpfen mit der Roten Armee die Front zu halten versuchte.
Schon kurz hinter Berlin fielen die Nachttemperaturen unter den Gefrierpunkt. Es schneite und in den fast fensterlosen Waggons hockten die Soldaten eng aneinandergedrückt, um sich gegenseitig zu wärmen. Ich dachte an Robert, dem es in seinem Zug gewiss nicht besser erging. Mir selber machte die Kälte nichts aus, aber ich litt mit den jungen Männern. Was mochte sie erst am Ende dieser Fahrt erwarten
?
Hoffentlich fand ich Robert!
Aber als ich mit ein paar Soldaten sprach, waren sie der Meinung, dass im Moment alle Truppentransporte nur ein Ziel hätten: die Front bei Stalingrad. Und die Angst stand ihnen in ihre bleichen, verfrorenen Gesichter geschrieben.
Wir waren fast drei Wochen unterwegs, und man konnte zwischenzeitlich den Eindruck gewinnen, dass es ans Ende der Welt ginge. Meistens war der Himmel bedeckt, und es schneite, sodass die Gefahr für mich gering war. Dennoch erzählte ich den Soldaten von meiner Lichtallergie, und sie nahmen darauf Rücksicht, indem sie nicht plötzlich und unbedacht die Fensterluken öffneten oder gar die Waggontür ohne Warnung aufschoben.
Als der Zug am 20. Dezember gegen Mitternacht den Ort Morosowskaja erreichte, waren die Soldaten so erschöpft, dass man sie eigentlich gleich zurück auf Heimaturlaub hätte schicken müssen, aber nicht an die Front. Stattdessen führte man sie auf einen Marsch nach Grusinow, wo sie gegen Morgen ohne Übernachtung mit Lkws an die Hauptkampflinie vor Stalingrad transportiert wurden, das noch einmal etwa hundert Kilometer entfernt war, wie ich hörte. Ich verabschiedete mich hier von den Kameraden,die ich während der langen Fahrt lieb gewonnen hatte, und suchte mir einen geschützten Ort, wo ich den Tag überstehen konnte. In der Nacht jedoch eilte ich sofort in Richtung Front, getrieben von der Sehnsucht nach Robert und der verzweifelten Hoffnung, ihn dort irgendwo noch lebend anzutreffen.
Ich erreichte am 22. Dezember den Ort Nishnij Astachow und geriet in einen panischen Rückzug unserer Truppen. Sie flohen kopflos vor den russischen Soldaten, die mit starken Verbänden und Artillerie die ganze Gegend überrollten. Noch nie in meinem Leben hatte ich derart viele Panzer gesehen, die auch noch aus allen Rohren feuerten und die Jungs, mit denen ich am Tag zuvor im Zug gesessen hatte, regelrecht abschlachteten. Verletzte deutsche Soldaten taumelten mir zu Hunderten in zerrissenen Uniformen blutüberströmt und entsetzlich schreiend entgegen. Viele, die in mir eine Krankenschwester erkannten, klammerten sich wie Ertrinkende an
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