Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
Verdacht, dass Amadeus gar kein mystisches Wesen, sondern ein ganz weltlicher Schriftsteller war, der das alles – auch die Liebe zu mir – bloß inszeniert hatte, um sein neuestes Buch zu promoten. Sollte das eine PR-Kampagne werden, für welche er den realen Bezug zu meiner Familie und Gut Blankensee suchte, um seinem Werk noch eine Portion Authentizität zu verleihen? Hatte er deswegen den Kontakt zu mir gesucht, weil ich eine Nachfahrin der Vanderborgs war? Wollte er vielleicht meine Mitarbeit? Denn wie es aussah, war diese Chronik noch keineswegs zu Ende geschrieben. Die letzte Eintragung datierte nämlich aus dem Jahre 1959. Hoffte er, mein Interesse zu wecken, damit ich ihm half, die Geschichte weiterzuschreiben?
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber es gab ja heute nichts, was es nicht gab! Die Leute kamen schon auf reichlich abgefahrene Ideen, wenn es galt, etwas zu verkaufen. Auch bei Büchern.
Nein, der Gedanke war zu bitter! Amadeus konnte mir seine Gefühle nicht bloß vorgespielt haben. Und da waren außerdem auch noch meine Träume … Niemals hätte ein Mensch sie für seine Zwecke manipulieren können. Unsere Begegnung war und blieb schicksalhaft!
Was aber diese »Chronik« anging … Welches Interesse konnte Amadeus daran haben, dass ich sie las? War er vielleicht ein entfernter Verwandter? Stand vielleicht auch über ihn etwas in diesem Buch? War er wirklich ein Vampir aus einer anderen Zeit, der mit mir eine dunkle Romanze suchte? Mich schauderte und es trieb mich weiterzulesen.
Doch es fiel mir ziemlich schwer. Diese Schrift war wirklich scheußlich kompliziert! Schließlich resignierte ich und beschloss, den Teil mit Estelles Eintragungen erst einmal zu überspringen.
Etwa nach einem Drittel des Buches wechselte die Schrift in das mir vertraute lateinische Alphabet. Die Chronistin war nun eine Amanda und gleich
danach tauchte der Name meiner Großmutter Lysette unter den Eintragungen auf. Das war natürlich hoch spannend für mich und so las ich nur die letzten
Seiten von Amandas Beiträgen, um recht schnell zur Geschichte meiner Großmutter zu kommen und dort möglicherweise auch etwas über das bisherige Schicksal
meiner Mutter zu finden. Wenn ich in diesem Buch erfuhr, was sie auf Blankensee in den Fünfzigerjahren so schwer traumatisiert hatte, dann würde ich
vielleicht sicher sein können, dass ich tatsächlich die Chronik meiner Familie in den Händen hielt …
Blankensee, im Dezember 1942
Wieder einmal fallen dunkle Schatten auf die Familie Vanderborg. Kaum dass wir Conrad in aller Stille im Familienkreis auf Blankensee bestattet hatten, ereilte Tante Gertrud und Onkel Hansmann die Nachricht vom Tod ihres Enkelsohnes Alfred an der russischen Front, wohin er sich freiwillig gemeldet hatte.
Ich stockte, denn den Namen Conrad hatte ich ja auf dem Grabstein im Küchengarten gelesen. War er Amandas Ehemann gewesen? Würde ich vielleicht sogar erfahren, was es mit dem »Schwarzen Mond« auf sich hatte? Meine Neugier war angestachelt.
Gertruds Trauer war so groß, dass sie darüber alle Menschlichkeit vergaß und aus reiner Missgunst Hansmann aufwiegelte, Robert anzuzeigen. Der hatte sich, obwohl im wehrfähigen Alter, als erklärter Pazifist bisher der Wehrmacht entzogen und bei uns auf Blankensee versteckt. Schon als Hansmann und Gertrud, von Karolus Utz aus der Berliner Villa vertrieben, auf das Gut zogen, befürchtete ich, dass von ihnen Gefahr für unsere im Ostflügel versteckten illegalen Gäste drohen könnte. Hansmann lag streng auf Parteilinie, und als er tatsächlich neuer Gauleiter für den Bereich Teltow-Fläming wurde, blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Untergrundarbeit einzustellen und ein letztes Mal Freunden zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Besonders der Abschied von Sarah und Aaron Rosenbaum fiel uns schwer. Mir waren sie wie eigene Kinder ans Herz gewachsen und für Lysette und Lysander waren sie wie Geschwister. Friedrich und Klara machten sich mit ihnen auf den Weg zur Schweizer Grenze. Ein gefährliches Unternehmen, aber die einzige Hoffnung. Nur Robert weigerte sich,uns zu verlassen. Blind vor Liebe zu Lysette wollte er die Gefahr für sich nicht sehen.
»Ich schaffe das schon«, meinte er optimistisch. »Falls mich jemand entdecken sollte, ist immer noch Zeit für die Flucht.«
Kaum waren Friedrich und Klara mit ihren Schützlingen aufgebrochen, erhielt Gertrud die Nachricht von Alfreds Tod, und als sie wenige Tage
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