Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
mir ihre erschreckende Reaktion erklärte. Denn es beunruhigte mich nach wie vor, und es wäre doch so viel schöner, wenn sie ebenfalls hierherkommen würde und …
Ich hielt bei dem Gedanken inne, denn ich konnte mir plötzlich vorstellen, dass ihre Phobie vielleicht mit dem vampirischen Zweig der Vanderborgs zusammenhing. Sie war ein sehr religiöser Mensch. War sie das vielleicht erst geworden, weil sie in einen Konflikt mit den mystischen Geschöpfen der Familie geraten war? Brauchte sie die Religion, um etwas Böses abzuwehren? Sie hatte mir nie verraten, warum Oma Lysette ohne sie nach Amerika gegangen war. Das sah mir doch ganz nach einem Abschied in Unfrieden, vielleicht sogar in Streit und Zorn aus!
Und da ich das unbedingt herausfinden wollte, las ich, getrieben von Neugier, die Aufzeichnungen von Lysette weiter und vergaß dabei völlig Zeit und Raum.
Nachdem sie Robert in Stalingrad endlich gefunden hatte, sah sie ihn zum ersten Mal richtig an.
Er war unrasiert, die Uniform verschmutzt und am Ärmel zerrissen. Sein liebes Gesicht war ausgemergelt, und er schien in denwenigen Wochen, die wir uns nicht gesehen hatten, extrem abgemagert zu sein. Aber das war nicht so schlimm wie die stumme Verzweiflung, die in seinen dunklen Augen lag. Was hatten sie gesehen
?
Was hatte er erlitten
?
»Was du beobachtet hast, Lysette, bestätigt die Gerüchte, dass wir in einem Kessel stecken. Offenbar sind wir in dieser verdammten Stadt eingeschlossen!«
»Aber das kann doch schon morgen vorbei sein«, versuchte ich ihm Mut zu machen. »Der Führer hat im Rundfunk gesagt, dass er euch in eurem heroischen Kampf gegen die rote Flut nicht alleine lassen würde. Das ganze deutsche Volk steht hinter euch. Mit seinem Mut und seiner Kraft werdet ihr die Bolschewiken im eigenen Land vernichten.«
»Propaganda«, unterbrach mich Robert. »Nichts als Propaganda. Du hast ihre Armee gesehen, die Unmengen von Panzern, für die sie sogar Treibstoff haben! Unsere Panzer dagegen liegen mit leeren Tanks am Wegesrand. Sollen wir die schieben
?
Wir sind nicht mal bis in die Nähe der Ölfelder vorgedrungen!«
Ich drückte mich an ihn und er legte seinen Arm um mich.
»Hier kommt keiner mehr lebend raus«, flüsterte er mit erstickter Stimme, in der die Angst mitschwang.
»Robert«, sagte ich eindringlich. »Wir kommen hier raus … ich will es und ich habe die Kraft dazu.«
Er lächelte nur und meinte besänftigend, als hätte eine Irre zu ihm gesprochen: »Ja, ja, mein Liebling, ja … schlaf ein wenig … du sprichst im Fieber.«
Nun reichte es mir. »Ich bin weder verrückt, noch habe ich Fieber. Ich habe lediglich den absolut festen Willen, das hier zu überleben. Und wenn ich sage, wir kommen aus diesem Kessel raus, dann solltest du zumindest den Mut haben, es mit mir zusammen zuversuchen, statt kleinmütig zu resignieren und den Schwanz einzuziehen!«
Ich musste unwillkürlich trotz der deprimierenden Schilderung lachen. Meine Oma war schon eine ziemlich energische Person. Respekt!
Das merkte wohl auch Opa Robert, denn er musste ebenfalls lachen.
Er wurde aber sofort durch ein vielstimmiges »Pst!« von seinen Kameraden an die kritische Lage erinnert.
»Wie stellst du dir das vor
?
«, flüsterte er. »Soll ich etwa abhauen
?
«
»Ja«, wisperte ich, »und zwar bei der nächsten Gelegenheit. Irgendwann wollen alle schlafen, du übernimmst freiwillig die Nachtwache mit mir …«
»Das ist Fahnenflucht. Wenn man uns erwischt, werden wir auf der Stelle erschossen.«
»Ich weiß, aber hier wirst du es über kurz oder lang auch. Die Russen durchkämmen systematisch die Häuser, Block für Block. Noch gibt es Schlupflöcher. Wird der Ring um die Stadt erst vollständig geschlossen, ist es zu spät, und du kannst dir gleich selber die Kugel geben.«
Ein Soldat trat zu uns. Er hatte eine kleine, schwach flackernde Kerze in der Hand und stellte sie zu uns auf eine Kiste.
»Ich wollte euch nur sagen, dass heute Heilig Abend ist … also jedenfalls zu Hause in Deutschland … ähm, ja, Gottes Segen«, sagte er leise und verschwand sogleich wieder. Nebenan spielte jemand auf einer Mundharmonika »Stille Nacht«.
Wir legten unsere Köpfe aneinander und schauten in die Flamme der Kerze. Nun fühlte ich, dass Roberts Wange nass wurde.
»Du musst nicht weinen«, sagte ich sanft und küsste ihm die salzigen Tränen fort. »Wir werden leben … vertrau mir!«
Ich hatte von Stalingrad im Schulunterricht gehört.
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