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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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Das war Pflichtstoff, hatte mich damals aber überhaupt nicht interessiert. Ständig war nur über Grenzverläufe geredet worden, die auf einer historischen Karte Osteuropas eingezeichnet waren und, je nachdem ob die Linien schwarz oder rot waren, den Frontverlauf aus deutscher oder russischer Sicht abgebildet hatten. Was sie nicht gezeigt hatten, war das Sterben und Leiden der Soldaten gewesen. Wir hatten auch Tonaufnahmen von Zeitzeugen angehört, von Menschen, die in Stalingrad dabei gewesen waren und überlebt hatten, aber wirklich berührt hatte mich das nicht.
    Mit diesen Aufzeichnungen war das anders. Hier sprach meine eigene Großmutter zu mir, und ihre Worte gingen mir so nahe, dass ich das Gefühl hatte, selbst in diesem Krieg dabei zu sein und im Kessel von Stalingrad zu stecken. Wie waren sie und Robert da nur herausgekommen?
     
    Schon in der nächsten Nacht machten wir es so, wie ich es geplant hatte. Wir übernahmen die Nachtwache und verschwanden, als alles schlief, in der Dunkelheit zwischen den Ruinen. Wie hohle Zähne ragten die Häuserskelette im Mondlicht auf. Wir schlichen leise davon und erreichten schon bald den Stadtrand, der ein einziges Gewirr von Steinhaufen und Schützengräben war. Mehr noch als vor den Russen mussten wir uns nun vor unseren eigenen Leuten in Acht nehmen. Bei der dritten Kontrolle erweckte meine Anwesenheit Misstrauen und nach einem kurzen Wortwechsel zog einer der Feldjäger seine Armeepistole und richtete sie auf Robert.
    »Du willst doch garantiert abhauen, du Verräterschwein!«, polterte er los.
    Nun blieb mir keine Wahl. Ich schlug ihm in einem Überraschungsangriff die Waffe aus der Hand, und während Robert in Deckung sprang, gab ich ihm mit meinen gefährlich spitzen Zähnen den tödlichen Biss. In diesem Moment schätzte ich mich zum ersten Mal glücklich, eine Vampirin zu sein, und darum trank ich diesmal auch ganz bewusst sein Blut, so wie meine Mutter es mir dringend empfohlen hatte.
    Sofort spürte ich eine ungeahnte Kraft und Energie auf mich übergehen, und als Robert Probleme mit dem zweiten Nazi bekam, griff ich zu und erledigte auch ihn auf die bewährte vampirische Art.
    Alles ging rasend schnell vor sich, sodass Robert kaum etwas davon mitbekam. Nachdem sich meine Zähne wieder in den Kiefer zurückgezogen hatten, sagte ich so normal wie möglich: »Komm, wir müssen uns ein Versteck für den Tag suchen. Du weißt, dass ich diese Lichtallergie habe.«
    Wir huschten zwischen Trümmerbergen und Schützengräben weiter und fanden schließlich einen aufgegebenen Unterstand, der in einem Erdloch lag und mit Bohlen und Brettern gesichert war. Vorsichtig, unsere Spuren hinter uns verwischend, stiegen wir hinein. Als ich in Roberts Augen allerdings schon wieder diese selbstmörderische Verzweiflung sah, fasste ich mir ein Herz und weihte ihn in das dunkle Familiengeheimnis ein.
    Er schwieg betroffen.
    »Schau mal«, versuchte ich ihn ein wenig aufzumuntern, »obwohl ich mir dieses Schicksal gewiss nicht ausgesucht habe, ist es doch nun ganz praktisch. Nichts kann mich töten, und ich habe eine Kraft, die uns beiden aus dieser Klemme helfen kann. Dumusst mir nur vertrauen und vor allem den Kopf nicht hängen lassen.«
    Aber er war schwer traumatisiert durch die Erlebnisse an der Front und hatte eine vollkommen depressive Anwandlung. Er jammerte über alles, beklagte den sinnlosen Tod so vieler Kameraden, verfluchte Hitler und seine Helfershelfer, überlegte, ob er zur Roten Armee überlaufen sollte, verdammte die entsetzlichen Gräuel des Krieges und begann schließlich wieder zu weinen und bald nur noch haltlos zu schluchzen. Mir riss der Geduldsfaden.
     
    Trotz der schrecklichen Schilderung musste ich erneut lächeln. Das war eine Oma nach meinem Geschmack. Offenbar hatte ich die Ungeduld und Tatkraft von ihr geerbt. Von meiner zögerlichen Mutter ganz gewiss nicht.
     
    Robert tat mir unendlich leid, aber dieses Selbstmitleid half uns jetzt überhaupt nicht weiter. Er würde daran ersticken und elend hier zugrunde gehen, wenn ich ihn nicht aufrütteln konnte.
    »Was bist du für eine Memme, Robert!«, schnauzte ich ihn also an, obwohl es mir im Herzen wehtat. »Und ich habe dich mal für einen Mann gehalten, den ich heiraten könnte. Du warst ein Anarchist, du hast weder Gott noch den Teufel gefürchtet. Du hast Bomben gebaut und sie Goebbels ins Büro geworfen! Hast du das alles vergessen
?
Auch wenn um uns herum Krieg ist, du bist derselbe Mann wie

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