Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
Vom Netzwerk:
aus meinem Kopf verschwunden.
    Ein Panzer hielt unmittelbar vor uns, das Rohr schwenkte zu uns herüber …
    »Die Internationale, singt die Internationale«, schrie ich. »Sie müssen wissen, dass wir Brüder sind, auch wenn heute hier gegen die überhöhten Normen gestreikt wird. Aber das ist eine reine innere Angelegenheit unseres Landes, es geht die Russen nichts an … Es hat nichts mit der internationalen Solidarität zu tun, das müssen wir ihnen zeigen. Wir kämpfen nicht gegen sie! Völker, hört die Signale … auf zum letzten Gefecht … die Internationale erkämpft das Menschenrecht!«
    Erst stimmten die Demonstrierenden friedlich mit ein, aber dann brüllte es von allen Seiten: »Reinen Tisch macht mit den Bedrängern, Heer der Sklaven wachet auf …«
    Und sie skandierten immer wieder die staatsfeindliche Parole: »Kameraden, reiht euch ein! Wir wollen freie Menschen sein! Nieder mit dem Plansoll, höhere Löhne für mehr Arbeit!«
    Dann wurde geschossen …
     
    »Darum allein ging es«, sagte Robert spät in der Nacht, als ich ihm schwarzes Vampirblut auf seine Blessuren träufelte. »Nur um Fragen des Arbeitsrechts. Kein Mensch wollte eine Revolution.«
    »Außer den westdeutschen Medien und Kanzler Adenauer. Sie werden garantiert einen Volksaufstand und eine Abrechnung mit dem SED-Regime daraus machen. Wie viele haben heute wohl rübergemacht
?
«
    »Nicht viele, die Rädelsführer vielleicht. Sie haben hier Strafen zu befürchten … Eingriffe in ihre Berufslaufbahn. Haben sie sich aber selber zuzuschreiben.«
    »Du bist hart … sprichst wie ein Apparatschik!«
    Robert lachte. »Du vergisst, dass ich einer bin.«
    »Freiheit und Demokratie!«, schrie jemand auf der Straße.
    »Schickt die Russen zurück in den Kreml! Deutschland den Deutschen!«
    »Wir haben den ganzen Tag über viele Solidaritätsadressen bekommen. Staatsrat und Parteizentrale …«
    »Ach ja
?
Hat Brecht auch was geschrieben
?
Ist ein Brief von ihm angekommen
?
«
    Robert zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Falls er geschrieben hat, wird man ihn verlesen, wenn er linientreu ist. Wenn nicht, wird man ihn verlegen, später abheften und vergessen. Wenn er mutig war, wird Brecht ihn in seinen Nachlass aufnehmen, war er feige, wird auch er froh sein, ihn vergessen zu können. Wie immer wird sich nicht decken, was er und was der Staat vergisst …«
     
    Ich musste schmunzeln bei diesen Zeilen, denn mir fiel eine Szene aus dem Stück
Die Plebejer proben den Aufstand
ein, in dem sich Günter Grass mit dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 auseinandersetzt. Knuppers hatte mit uns die Szene erarbeitet, in der erst die Arbeiter und dann Leute der Staatssicherheit Brecht bedrängen, sich mit ihnen zu solidarisieren. Grass stellte ihn wankelmütig dar … was er allem Anschein nach wohl wirklich war. Jedenfalls wirkte auch Lysettes Eintragung so auf mich.
     
    »Haben sich noch andere Künstler geäußert
?
«
    »Was ist mit dir, Lysette
?
Du bist bekannt, man erwartet, dass du dich äußerst … die Partei so gut wie das Volk …«
    »In dieser Situation wird es mir schwer, beiden gerecht zu werden. Du meinst, es wäre nötig, sich zu äußern
?
«, fragte ich zweifelnd.
    »Viele haben es getan, man wird sich die Namen derer merken, die geschwiegen haben …«
    »Wer wird sie sich merken
?
Die Arbeiter doch gewiss nicht …«
    »Die Herren, die darauf warten … Der Genosse Kubalka zum Beispiel, der dich schon eine Weile bei deinen abendlichen Ausflügen in den Westen Berlins observiert.«
    »Er observiert mich
?
Und du hast es gewusst
?

    »Es war belanglos, Lysette. Jeder Künstler, der einer Arbeit im Westen nachgeht, wird observiert. Dazu haben wir die Stasi ja.«
    »Ich soll also für die Spitzel der Stasi etwas verfassen
?
So etwas liegt mir nicht. Ich bin kein Opportunist.«
    Robert stand am Fenster. Schüsse waren von Ferne zu hören. Da wurden Arbeiter geschlachtet auf der Stalinallee und den umliegenden Straßen. Robert wirkte betroffen, und als er sich wieder umdrehte, sagte er resignierend: »Du hast recht, wir lassen es. In diesem Staat liegt mehr im Argen als nur das Plansoll.«
    Wir hockten uns auf das Sofa, nahmen Hannah zwischen uns und warteten, dass die Sprechchöre aufhörten, die Schüsse, dass die Panzer wieder in die Kasernen rollten, dass die Revolution, die keine war, beendet wurde und alles zur Normalität zurückkehrte.
    »Blankensee soll eine LPG werden«, sagte Robert unvermittelt in die

Weitere Kostenlose Bücher