Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
gemeint, denn es war ein sehr patriotischer Marsch, der verdammt nach der Zeit von Blut und Boden klang. Aber vielleicht mochte er es ja gerade deswegen … roter Adler … rotes Blut …
»Also jedenfalls hat mein Großvater Robert hier eine LPG geleitet. 1956 ist im Westflügel ein Jugendwerkhof eingerichtet worden. Davon hat mir auch meine Mutter schon erzählt und ich wollte da gerade weiterlesen. Die nächste Eintragung ist aus dem Jahre 1959. Es sind nur noch ein paar Seiten bis zum Ende der Chronik und morgen kommen meine Freunde …«
»Dann störe ich dich nicht weiter.«
Ich blickte ihn an und fand, dass er sehr blass aussah und sehr hungrige Augen hatte. Aber wenn ich eins nichttun würde, dann war es, die Frage zu stellen, ob er nicht auch mal was essen müsse. Ich wollte um nichts in der Welt wissen, wie er sich ernährte und zu Lebensenergie kam! Normalerweise war ich kein Mensch, der vor Problemen davonlief, aber in diesem Falle dachte ich sehr rational: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!
Blankensee, im November 1959
Wir müssen Blankensee verlassen.
Die Verhältnisse hier sind für mich und meine Familie nicht mehr tragbar. Wir haben kaum noch etwas zu sagen, seit auf dem Gut ein Jugendwerkhof mit eigener Heimleitung eingerichtet wurde. Man schickt uns Schwererziehbare hierher, wie es offiziell heißt, aber ich habe herausgefunden, dass es sich überwiegend um Jugendliche handelt, die man ihren Eltern weggenommen hat, weil diese sich nicht hinreichend in den sozialistischen Staat eingegliedert haben. Regimegegner, Christen, Menschen, die versucht haben, das Land illegal zu verlassen … Kinder, deren Eltern in Bautzen als »Politische« einsitzen, weil sie von Stasispitzeln denunziert worden sind … Sie sind hier, weil in diesem Lande Sippenhaft herrscht.
Als die Baubrigade anrückte, blutete mir das Herz. Sie rissen Wände ein, um größere Gemeinschaftsräume und einen Speisesaal nebst Küche und Sanitäreinrichtungen im Haupthaus zu schaffen, während im Westflügel Einraumwohnungen für die Heimerzieher und vier Schlafsäle, jeweils zwei für Mädchen und Jungen, gebaut wurden sowie Gemeinschaftsduschen und Toiletten, ebenfalls nach Geschlechtern getrennt.
Ich schaffte so viel wie möglich von den Möbeln und erinnerungsträchtigen Gegenständen, die vom Krieg verschont gebliebenwaren, auf den Dachboden des Haupthauses. Estelles Sekretär und kistenweise Bücher aus ihrer Bibliothek schleppten wir allerdings ins geheime Gewölbe.
Man schickte uns drei Erzieher und einen Heimleiter auf das Gut, deren Aufgabe es war, aus Normalabweichlern und Schwererziehbaren brauchbare sozialistische, staatsbejahende Persönlichkeiten zu formen. Die Methode dazu bestand hauptsächlich darin, die Jugendlichen dem Zwang einer totalitären Institution zu unterwerfen, mit dem erklärten Ziel, sie erst einmal zu brechen und dann im Geiste der staatstragenden Ideologie umzuerziehen. Dabei waren sie oft nur durch jugendliche Renitenz aufgefallen oder hatten sich der Staatsjugend entzogen, Westmusik gehört und sich westlich gekleidet oder hatten in kleinen rauchenden Grüppchen an Häuserecken herumgestanden, was das sozialistische Einheitsstraßenbild offenbar verschandelte. Auf ihren knatternden Mofas erschreckten sie alte Omas, statt ihnen als junge Pioniere in ordentliche Uniformen gekleidet über die Straße zu helfen. Ganz klar, Rowdys, die nicht mal zur Jugendweihe gingen …
Robert und ich hatten allerdings den festen Willen, zum Wohle der jungen Menschen zu wirken, deren Schicksal auch ohne die Repressalien schon hart genug war. Wenigstens hier sollten sie liebevolle Aufnahme und verständnisvolle Zuwendung finden. Das aber war alles andere als im Sinne des staatlichen Erziehungsmonopols. Was uns der Heimleiter Dietrich Reiter auch gleich bei seiner ersten Mitarbeiterbesprechung klarmachte.
»Sie, Genosse Berger, und Sie, Frau Berger, haben mit den Jugendlichen nur insofern zu tun, als sie auf dem Gut zum Arbeitsdienst eingesetzt werden. Sie haben lediglich die Aufgabe, Pläne für diesen Arbeitseinsatz zu erstellen, der sich natürlich an den Erfordernissen der LPG zu orientieren hat. Wir sorgen danndafür, dass ihnen genügend Kräfte zur Verfügung stehen, zum Beispiel für den Ernteeinsatz bei Heu, Getreide, Kartoffeln …«
Robert bedankte sich und zeigte sich hocherfreut über die Unterstützung durch unbezahlte Arbeitskräfte, was ihm einen misstrauischen Blick des
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