Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
kommen … ihn zu befriedigen … Es ist so eklig … so erniedrigend …«
Sie schluchzte herzzerreißend, und ich fragte mich erschüttert, ob eine totalitäre Institution, die einzelnen Menschen uneingeschränkte Macht über andere Menschen gab, zwangsläufig Folter und Missbrauch provozierte
?
Wie in den Arbeitslagern und KZs der Nazis …
Ich hatte einmal geglaubt, dass ein neues, gerechtes Deutschland aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstehen würde … und diese Hoffnung zu begraben tat weh.
»Komm mit zurück«, sagte ich zu Sabine, nachdem wir langeschweigend zusammengesessen hatten. »Ich verspreche dir, dass wir das abstellen werden. Keiner der Erzieher, und schon gar nicht der Heimleiter, darf sich derartige Übergriffe auf euch erlauben. Mein Mann und ich werden dagegen einschreiten.«
»Aber wird es dadurch nicht nur noch schlimmer werden
?
«, fragte sie, um gleich darauf flehend zu bitten: »Lass mich doch wenigstens weglaufen …«
»Damit sie dich wieder einfangen und in eine Jugendstrafanstalt schicken
?
Dies hier ist nur ein Heim. Was glaubst du, erwartet dich dort erst
?
«
Sie kam schließlich freiwillig mit, nachdem ich ihr versprochen hatte, dass ich niemandem von unserer nächtlichen Begegnung erzählen würde, außer Robert natürlich.
Vor dem Westflügel nahm ich sie noch einmal in den Arm und strich ihr über das Haar. Es war mir, als wäre sie mein eigenes Kind.
Am nächsten Morgen war sie tot.
Ich konnte es nicht fassen, als man sie in einem Blechsarg aus dem Haus trug. Reiter stand dabei.
»Selbstmord«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Sie hat sich am Bettgestell selbst stranguliert. Ärgerliche Sache das …«
»Und keines der anderen Mädchen hat etwas bemerkt
?
«, fragte ich erschüttert.
Er grinste unangenehm.
»Anscheinend nicht … ein leiser Tod …«
Ich hätte ihm in seine feiste Fratze schlagen mögen.
Als ich Robert von meinem nächtlichen Erlebnis berichtete und ihn bat, Reiter zur Rede zu stellen, weigerte er sich.
»Der Selbstmord passt doch zu dem, was du mir erzählt hast. Da es mit dem Ertränken nicht geklappt hat, hat sie sich eben erhängt. Wenn sie doch um jeden Preis sterben wollte … Es sindJugendliche mit massiven seelischen Problemen hier. Da fantasiert sich so ein Mädchen schnell mal etwas zusammen und der Kurzschluss ist da. Wer kann etwas dafür
?
«
»Ich hätte auf sie aufpassen müssen«, warf ich mir vor, »sie zu uns nehmen, sie war noch viel zu verstört … und …«
Ich hielt kurz inne, weil ich überlegte, wie und ob ich es Robert überhaupt erzählen sollte, doch dann gab ich mir einen Ruck, denn die Sache mit Sabine änderte alles und ich konnte nicht länger über meine Beobachtungen schweigen.
»Robert, du weißt, ich bin oft noch nachts unterwegs, und auf dem Weg zum See komme ich am Westflügel vorbei. In letzter Zeit habe ich von dort häufig Stöhnen und unterdrückte Schreie aus dem Zimmer des Heimleiters gehört. Zunächst dachte ich, er würde sich dort mit der Heimerzieherin vergnügen, aber nach dem, was Sabine widerfahren ist, liegen andere Erklärungen nahe. Haben wir uns nicht schon immer gefragt, wie verstört und zerschlagen manches Mädchen und mancher Junge zur Arbeit kamen
?
«
Robert widersprach. »Du bist erregt und bringst Dinge zusammen, die nichts miteinander zu tun haben. Glaub mir, Reiter ist ein erfahrener Heimleiter, er genießt einen guten Ruf und das volle Vertrauen der Partei.«
Ich aber schüttelte den Kopf über seine Kurzsichtigkeit. »Sabine hat gewiss die Wahrheit gesagt und ich kann eins und eins zusammenzählen. Es ist unsere Pflicht, dagegen einzuschreiten. Wenn du nichts sagst, tue ich es!«
Robert wurde blass. »Bitte, Lysette! Wir sollten nichts übereilen. Lass uns darüber noch einmal in Ruhe sprechen. Bloße Beschuldigungen zu erheben bringt gar nichts.«
Ich erhob sie gegen den Heimleiter trotzdem und Robert hatte recht – es brachte tatsächlich nichts.
Unsere Position war zu schwach. Reiter war ein mehrfach ausgezeichneter Held des Arbeiter- und Bauernstaates, dem man nicht leicht am Zeug flicken konnte. Das Mädchen war tot, es gab keine Zeugen, und meine Aussagen fußten lediglich auf den Behauptungen von Sabine, der selbstverständlich niemand Glauben schenkte. Wer war sie auch schon
?
Eine Normalabweichlerin mit Suizidneigung, während Reiter ein bewährter Heimleiter und verdienter Parteigenosse war.
Bald merkte ich, dass ich einen gravierenden Fehler
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