Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
gemacht hatte, als ich mich in die Geschäfte der Heimleitung eingemischt hatte. Reiter verzieh mir das nicht.
In den nächsten Wochen gab es zwar keine besonderen Vorkommnisse, keine zerschlagenen Jungengesichter und keine verstörten Mädchen, aber eines Nachts hörte ich Hannah herzzerreißend weinen.
Ich stockte erschüttert. Sabines Schicksal hatte mich sehr berührt und meine Augen schwammen in Tränen. Nun aber auch noch meine eigene Mutter in diese Tragödie verwickelt zu finden überstieg fast meine seelische Kraft. Aber ich wusste, dass ich – egal wie aufgewühlt ich war – weiterlesen musste, wenn ich wissen wollte, was meine Mutter mir immer verschwiegen hatte. Hier in diesen Zeilen würde ich den wahren Grund erfahren, warum sie das Erbe von Gut Blankensee nicht antreten wollte. Um keinen Preis antreten wollte!
Als ich hinüber zu Hannah in ihr Zimmer ging, war ihr weißes Nachthemd voller Blut. Sie war elf Jahre, und ich dachte, sie wäre zum ersten Mal von ihrer Monatsblutung überrascht worden. Ein wenig früh zwar, aber doch nicht ganz ungewöhnlich. Ichnahm sie also mit in mein Badezimmer, aber als ich ihr das Hemd vom Körper zog und sie in der Wanne abwusch, sah ich, dass sie schwer verletzt war, weil offenbar jemand mit äußerster Brutalität in sie eingedrungen war.
Ich glaubte, wahnsinnig zu werden! Meine süße, unschuldige Tochter! Wer tat ihr so etwas an
?
!
Als ich versuchte, sie dennoch vorsichtig darauf anzusprechen, begann sie erneut, am ganzen Leib zu zittern. Ich half ihr aus der Wanne, schlug ein großes Badetuch um sie und brachte sie zu meinem Bett. Ich deckte sie zu, setzte mich auf die Bettkante und wartete, bis sie sich ausgeweint hatte.
»Wer war das
?
«, fragte ich schließlich, obwohl ich mir die Antwort fast selber geben konnte. Und weil sie immer noch nicht reden konnte, äußerte ich meine Vermutung: »Reiter
?
«
Sie nickte stumm und erneut wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt.
»Wo
?
Wo ist es geschehen
?
Wieso konnte er überhaupt in deine Nähe kommen
?
«
»Auf … auf … der Toilette … hier im Haus … Er lief mir im Flur über den Weg … Er hat mich hineingeschubst …«
Sie stöhnte gequält auf und ich nahm sie in meine Arme. Flüsternd lag sie an meiner Brust und enthüllte mir die schrecklichen Einzelheiten der schändlichen Tat.
»Er … er … hat meinen Kopf in die Kloschüssel … gedrückt … immer und immer wieder hat er die Spülung abgezogen. Ich … ich … dachte … er will mich ertränken … Mutti … was … was hat er mit mir gemacht
?
!«
Mir war klar, dass sie durch diese Folter kaum mitbekommen hatte, dass er sie gleichzeitig missbraucht hatte … und ich war die Letzte, die ihr das sagen konnte. Sie hatte genug gelitten und musstedie ganze Wahrheit nicht erfahren. Jedenfalls nicht jetzt sofort. Vielleicht später einmal … wenn sie es besser verkraften konnte …
Sie schlief schließlich ein, aber später in der Nacht erwachte sie schreiend und spürte nun doch die Schmerzen im Unterleib. Sie bekam Fieber und begann zu fantasieren. Ich musste Robert wecken, damit er mir ein Antiseptikum und frische Vorlagen besorgte. Als er zurückkam, machte ich Hannah Wadenwickel, um das Fieber zu senken, und als sie dann in einen erschöpften Schlummer fiel, erzählte ich ihm, was geschehen war.
V
erstört hielt ich im Lesen inne. Meine Mutter hatte nie mit mir darüber gesprochen, dass sie als junges Mädchen so schrecklich missbraucht worden war. Nun, da ich davon wusste, erklärten sich mir manche ihrer Eigenheiten: ihre extreme Zurückhaltung gegenüber Männern, ihr überbehütendes Verhalten, wenn ich mal einen Jungen mitbrachte, ihre haltlosen Verdächtigungen meinem Lehrer gegenüber, nur weil er sich außerhalb der Schule mit dem Literaturkurs traf und mir in leicht angetrunkenem Zustand einmal einen Kuss abnötigen wollte. Er hatte sich dabei total peinlich gemacht und wir hatten uns köstlich über ihn amüsiert. Aber als ich es meiner Mutter arglos erzählte, hatte sie ein unglaubliches Drama daraus gemacht und sogar angedroht, zum Direx zu gehen.
»So ein Mensch gehört nicht in einen Lehrberuf«, hatte sie gewettert.
Eine völlige Überreaktion, die mich bei meinen Mitschülern unmöglich gemacht hätte. Ich hatte sie dann davon abbringen können, aber nie verstanden, warum sie sich dermaßen darüber aufgeregt hatte.
Nun konnte ich ihre Reaktion allerdings sehr gut verstehenund im Nachhinein
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