Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
fand auch ich das Verhalten meines Lehrers alles andere als in Ordnung.
Aber es war natürlich eine Lappalie, gemessen an dem traumatischen Erlebnis meiner Mutter, unter dem nicht nur sie, sondern unsere ganze Familie gelitten hatten, denn wie es schien, hatte sie es nie wirklich verwunden.
Viele Probleme hatten offenbar darin ihren Ursprung, und ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr mit ihr darüber zu reden. Vielleicht konnte ich sie überzeugen, professionelle Hilfe anzunehmen. Es gab Opfervereinigungen und andere Hilfsorganisationen für Missbrauchsopfer. Sie musste etwas tun … Ihr Leben war doch noch lange nicht zu Ende, es lohnte sich doch, sich endlich von dieser schrecklichen seelischen Last zu befreien. Was in meiner Macht stand, um sie dabei zu unterstützen, würde ich tun.
Ich konnte nicht weiterlesen, ließ die Chronik aufgeschlagen liegen und stand auf, um Amadeus zu suchen. Ich musste mit jemandem reden.
»Tu das«, sagte er. »Ich höre.«
»Lass uns hinaufgehen. Ich weiß, wo es geschehen ist.«
»Du willst dorthin?«
Ich nickte. »Ich muss wissen, ob ich in Kenntnis des Grauens, das meiner Mutter dort geschehen ist, diesen Ort ertragen kann.«
»Darf ich dir davon abraten?« Amadeus sah mich sehr besorgt an.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Es muss sein.«
»Und wenn du es nicht erträgst?«
Ich zuckte die Schultern. »Lass uns gehen.«
Der Flur zu den Toiletten im Erdgeschoss des Gutshauses kam mir dunkler vor als früher. Zudem hatte ich gleich wieder das unterdrückte Stöhnen, den gurgelnden Schreiim Ohr, als ich die Tür zur Damentoilette öffnete. Es war ganz offensichtlich, dass das Drama hier stattgefunden hatte. Nun wusste ich, dass ich keine Halluzination hatte, sondern sich mir das schreckliche Verbrechen des Heimleiters an meiner Mutter bereits mitgeteilt hatte, als ich davon noch nicht das Geringste ahnen konnte. Doch zu wissen, dass es eine konkrete Ursache für dieses unheimliche Erlebnis gab, führte bei mir zu einer seltsamen Ruhe.
Ich sagte zwar: »Ich hätte ihn an Lysettes Stelle umgebracht«, spürte aber zugleich, dass die dunkle Energie plötzlich abnahm, so als wäre alles in dieser Angelegenheit gesagt. »Meinst du, es liegt nun für immer ein Fluch auf diesem Raum?«, fragte ich Amadeus dennoch.
»Ich weiß es nicht. Was sagt dir dein Gefühl?«
»Dass nicht die Räume die Schuld tragen, sondern die Menschen, die in ihnen solche Taten begehen? Nicht der Tatort ist verflucht, sondern der Täter.«
»Du solltest Lysettes Aufzeichnungen zu Ende lesen. Es wird dir helfen, mit dieser Sache abzuschließen.«
So gingen wir noch einmal hinunter in das geheime Gewölbe, und ich verbrachte meine letzte Nacht vor der Ankunft meiner Freunde damit, mich mit dem weiteren Schicksal meiner Mutter und ihrer Familie zu konfrontieren. Es fiel mir nicht leicht, auch noch die letzten Eintragungen von Lysette zu lesen, aber ich fand, dass ich es meiner Mutter schuldig war. Zugleich empfand ich es auch deshalb als meine Pflicht, weil ich nach meiner Mutter die letzte Frau aus dem Geschlecht der Vanderborgs war. Lysette war verständlicherweise extrem aufgebracht.
»Ich bringe ihn um«, sagte ich nahezu tonlos in kalter Wut, und obwohl Robert mich beruhigen wollte, ließ ich ihn bei Hannah zurückund eilte rasch und entschlossen hinüber in die Wohnung des Heimleiters. Auf dem Weg dorthin schwollen meine Muskeln an, sie wurden hart und fest, und mein vampirisches Wesen brach mit einer Gewalt hervor, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich erreichte Reiters Wohnung, trat ohne Zögern die Tür ein, riss ihn aus seinem Bett und schleuderte ihn gegen die Wand. Schon dabei schien er sich ein paar Knochen gebrochen zu haben.
»Steh auf!«, herrschte ich ihn mitleidlos an. »Los! Hoch!«
Er wirkte eher verblüfft und überrumpelt als verängstigt. So stammelte er verwirrt: »Aber … aber … Frau Berger … ich … äh … kann ich etwas … für … Sie … äh … tun …
?
«
Er richtete sich auf, fasste sich an den Kopf und sah mich mit einem dümmlichen Ausdruck im Gesicht fragend an.
Ich zerrte das Laken von seinem Bett, riss es in Streifen und knebelte und fesselte ihn, wobei ich jede Gegenwehr mit meiner übermenschlichen Kraft sofort im Keim erstickte. Einen Streifen Stoff schlang ich um seinen Hals und zog die Schlinge langsam zu, bis er erst rot und dann blau anlief. Dann lockerte ich sie wieder und zerrte ihn hinter mir her aus dem Haus.
Dabei sagte ich:
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