Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
ich stockend zu erzählen, und als alles gesagt war, saßen wir beide fassungslos nebeneinander.
»Der Ort ist verflucht«, sagte meine Mutter schließlich.»Begreifst du nun, warum ich nichts mehr mit dem Gut zu tun haben wollte? Als wir in den Westen flohen, konnte ich endlich aufatmen und alles hinter mir lassen … Es gab keinen Grund, jemals wieder zurückzuschauen!«
Ich blickte zu meiner Mutter auf. Sie hatte wieder diesen verhärmten Zug um den Mund, den sie jedes Mal bekam, wenn sie von Blankensee oder der DDR sprach. Nun wusste ich, warum sie sich dabei so verhärtete. Es war eine reine Schutzreaktion.
»Mama«, flüsterte ich. »Es … es tut mir so leid … Ich hätte auf dich hören sollen. Ich … ich weiß nun, was damals geschehen ist … mit dir geschehen ist.« Ich stockte, denn der Ausdruck im Gesicht meiner Mutter wandelte sich in ungläubiges Entsetzen.
»Aber … aber …«, stammelte sie, »woher … wer? Es weiß doch niemand etwas davon.« Fassungslos starrte sie mich an.
»Es gibt ein Buch«, sagte ich leise. »Eine Familienchronik der Vanderborgs. Ich habe sie auf dem Gut … gefunden … und gelesen … Oma Lysette hat darin alles aufgeschrieben.«
»Alles?«, fragte meine Mutter erschüttert, und ich merkte, dass die Tatsache, dass ich von dem grausamen Missbrauch wusste, sie noch mehr erschütterte als die eigentliche Erinnerung daran. Nun begriff ich, dass sie mich schützen wollte und mir deswegen nie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählt hatte. So war es, denn sie sagte tonlos und völlig gebrochen: »Du hättest es nie erfahren sollen.«
»Ich weiß, Mama«, wisperte ich, »und ich bin dir auch dankbar für deine Fürsorge, aber es … es nützt doch auch nichts, es ewig totzuschweigen. Es hat dein ganzes Leben zerstört …«
Und fast auch meins, dachte ich und war froh, dass ich mit sechzehn Jahren von zu Hause ausgezogen war und unbelastet von ihrem Hass auf alle Männer meine eigenen Erfahrungen machen und Freundschaften knüpfen konnte. Immer hatte sie mir jeden Jungen ausgeredet … Nun verstand ich ihre übertriebene Sorge zwar, aber leicht war es für mich in der Pubertät dadurch wirklich nicht mit ihr gewesen.
Ich überlegte, ob ich ihr auch alles andere erzählen sollte, was ich in der Chronik gelesen hatte. Wie viel wusste sie selber davon?
»Oma hat ihn getötet«, sagte ich leise, »den Heimleiter, diesen Reiter … am Hünengrab.«
Meine Mutter nickte. »Ich habe es mir gedacht. Sie war rasend, als sie mich blutend in meinem Bett fand, und sobald sie mich versorgt hatte, lief sie aus dem Haus … Am nächsten Tag hörte ich, dass man Reiters Leiche gefunden hatte … stranguliert … wie Sabine … Du hast recht, es war am Steinzeitgrab. Ich dachte mir gleich, dass sie ihn dort gerichtet hatte.«
»Niemand konnte ihr etwas nachweisen, aber ihr seid dann trotzdem vom Gut fortgezogen …«
»Ja, mein Vater wollte es zwar nicht, aber weder ich noch meine Mutter hielten es dort länger aus.«
Sie stand auf und öffnete eine Schublade in ihrer privaten Kommode. Sie nahm einen Umschlag aus braunem Papier heraus und gab ihn mir.
»Nun kann ich dir dies hier auch geben«, sagte sie dabei. »Deine Oma hat mir den Inhalt ans Herz gelegt, als sie in die USA auswanderte.«
»Was ist es?«, fragte ich verwundert, denn sie hatte mir vorher nie davon erzählt.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Damals sagte meine Mutter nur, wenn ich jemals zurück nach Blankensee käme, solle ich den Inhalt der Familienchronik der Vanderborgs hinzufügen. Ich habe sie ehrlich gesagt nicht verstanden, den Umschlag fortgelegt und schließlich vergessen.«
»Soll ich ihn aufmachen?«
Sie nickte.
Meine Finger bebten, als ich ihn öffnete und das braune Papier dabei einriss. Was mochte er enthalten?
Fotos! Er enthielt einige Fotos und einen Stapel eng beschriebenes Papier. Schon beim ersten Blick darauf erkannte ich Omas Schrift, obwohl sie inzwischen sehr viel ausgereifter wirkte. Es waren Tagebuchaufzeichnungen und oben in der linken Ecke stand eine kleine Notiz, die rot unterstrichen war: Bitte der Chronik der Vanderborgs gelegentlich hinzufügen!
»Warum hast du das Päckchen denn nie aufgemacht?«, fragte ich verständnislos.
Meine Mutter zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wir gingen nicht gerade in Freundschaft auseinander. Ich wollte nicht nach Amerika, aber sie liebte diesen Amerikaner … Sie hat sich gegen mich entschieden … es war, als hätte sie
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