Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
aufgehört, meine Mutter zu sein.«
Ich griff nach ihrer Hand, denn ich fühlte, dass sie immer noch nicht darüber hinweg war und nun selber Trost brauchte.
»Aber du warst doch damals schon erwachsen«, wandte ich ein. »Irgendwann nabelt sich jeder Mensch von seiner Mutter ab.«
»Ich weiß, du hast es ja auch getan, und so herum ist es ja auch der richtige Weg, aber sie hat sich von mir abgenabelt,nicht ich von ihr … Ich hätte einfach noch etwas Zeit gebraucht … aber die hat sie mir nicht gegeben. Vielleicht wäre ich dann ja auch mit nach Amerika gegangen. Sie hatte es so eilig mit der Hochzeit und allem …«
Ich streichelte die Hand meiner Mutter und fand es schrecklich, wie vieles doch in ihrem Leben schiefgelaufen war. Und plötzlich bewunderte ich sie dafür, dass sie trotzdem die Kraft gehabt hatte, mich allein aufzuziehen … ja, mir eine wirklich schöne Kindheit und sehr viel Liebe zu geben.
Ich nahm sie in meine Arme und küsste sie.
»Danke«, flüsterte ich an ihrem Ohr, »danke für alles, du bist eine ganz tolle Mutter.«
Sie vergoss ein paar Tränen der Rührung und stand dann auf. »Wenn du dich ein wenig zurückziehen möchtest«, sagte sie. »Vielleicht willst du lesen, was deine Oma aufgeschrieben hat?«
Ich erhob mich ebenfalls. »Willst du die Fotos nicht ansehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Später eventuell. Dann kannst du mir ja dabei erzählen, was meine Mutter für die Chronik aufgezeichnet hat.«
Ich wunderte mich über dieses Desinteresse, sagte mir dann aber, dass sie im Moment vielleicht einfach nicht mehr verkraften konnte. So zog ich mich mit dem Umschlag und seinem kostbaren Inhalt in mein Mädchenzimmer zurück. Und weil es mich von den schrecklichen Gedanken an die Bluttat auf Blankensee ablenkte, warf ich mich auf meine Liege und begann Oma Lysettes weitere Aufzeichnungen zu lesen.
Berlin, im Frühjahr 1961
Domanski wurde mein Führungsoffizier.
Er besorgte mir tatsächlich eine Arbeitsgenehmigung für Westberlin und schleuste mich als Sängerin in einen exklusiven Club ein, in dem wichtige Politiker und vor allem auch Amerikaner verkehrten, die ich animieren und aushorchen sollte.
Diese Art Beschäftigung kam meiner vampirischen Natur sehr entgegen – aussaugen, und sei es auch nur nach Informationen, lag mir ausgesprochen. Da hatte Domanski einen guten Instinkt bewiesen. So hatte ich beim Singen meine Freude, stellte mich, was meinen Sonderauftrag anging, nicht gerade ungeschickt an und versorgte die Staatssicherheit mit allerlei halb realem Unsinn. Dabei war es schon höchst amüsant zu erleben, wie freimütig die westdeutschen Politiker Staatsgeheimnisse ausplauderten.
Ich erledigte meinen Auftrag also recht glaubwürdig, was dazu führte, dass Hannah sogar auf ein Gymnasium gehen durfte. Robert erhielt wieder einen Arbeitsplatz bei der SED, in die ich leider gezwungenermaßen nun auch eintreten musste. Dafür bekamen wir aber auch eine kleine Wohnung in einem teilrenovierten Altbau zugewiesen und standen auf der Warteliste für einen Trabant. Einen Motorroller hatte Robert ja schon.
So kamen wir ganz gut über die Runden, bis ich David kennenlernte.
Er tauchte eines Nachts im Club auf und setzte sich sehr nah an die Bühne. Ich sang gerade ein Chanson: Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu schade für einen allein … Das schien ihm zu gefallen. Nach meinem Auftritt gab er mir Champagner aus und flüsterte mit mir … über erotische Dinge. Von da an kam er jedes Wochenende.
»Ein Verehrer meiner Kunst, nichts weiter«, beschied ich Domanski.
»Ein Amerikaner! Du weißt, was du zu tun hast, Genossin.«
Ich wusste es und versuchte David zu warnen.
»Mädchen«, sagte der jedoch nur lachend und mit starkem amerikanischen Akzent. »Was glaubst du, warum ich so viel Geld in dich investiere
?
«
Wir sprachen sehr ernsthaft miteinander und am Ende hatte ich unter einem Decknamen ein Konto in Westberlin und war eine Doppelagentin für die Stasi und den CIA.
Es war ein gefährliches Spiel, aber es war nicht gefährlicher als das Spiel, das ich bald mit Robert spielen musste. Denn je öfter ich David traf, umso mehr fiel mir auf, wie weit ich mich innerlich von Robert entfernt hatte, wie wenig uns im Grunde nur noch verband.
Unsere gemeinsamen Ideale waren in diesem Staat, der sich sozialistisch und demokratisch nannte, pervertiert worden. Das Volk wurde in seiner Arbeitskraft schlimmer ausgebeutet als im Kapitalismus. Die
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