Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
leere Parolen. Ich bin jedes Wochenende im Westen und sehe nur, wie gut es dort den Menschen geht … weil sie nicht wie wir von einem sozialistischen Brudervolk ausgeplündert werden. Weil so etwas wie der Marshallplan existiert und den Wiederaufbau ermöglicht und nicht jeder Nagel, jede Schraube nach Russland wandert, die hier in der DDR für den Aufbau nötig wären. Warum gibt es bei uns kein Wirtschaftswunder, warum keinen Bauboom
?
Erinnerst du dich an den Protest der Bauarbeiter in der Stalinallee
?
Sie haben schon damals angeprangert, was das Problem dieses Staates ist: Er beutet seine eigenen Bürger aus, und damit sie keine Vergleichsmöglichkeiten haben und es merken, sperrt er sie ein!«
»Niemand wird hier eingesperrt.«
»Ach, nein
?
Dann sind es also nur Gerüchte, dass die Grenzen nach Westen vollständig dichtgemacht werden sollen
?
Dein Stasifreund und Parteigenosse Domanski hat mir also nur ein Märchen erzählt, als er mir empfahl, meine Arbeit in Westberlin aufzugeben … weil solche Dinge ohnehin bald unterbunden werdenwürden. Im Westen spricht man davon, dass eine Mauer errichtet werden soll …«
Nun brauste Robert auf. »Wie kannst du einer solchen Gräuelpropaganda auf den Leim kriechen
?
Der Genosse Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht ist dem heute entschieden entgegengetreten und hat wörtlich gesagt, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten.«
»Und du glaubst ihm
?
«
Robert lachte. »Sieh doch nicht immer so schwarz!«
Ich sollte recht behalten. In der Nacht auf den 13. August 1961 begann die DDR, die Grenzbefestigungen nach Westdeutschland zu verstärken und zwischen den alliierten Sektoren in Berlin und dem Staatsgebiet der DDR eine Mauer zu errichten.
Ich hörte die Nachricht im Westfunk. Auf Rias Berlin lief nichts anderes. Reportagen und Befragungen von Westbürgern und Leuten aus dem Osten, die gerade noch rübergemacht hatten.
»Da hast du es«, sagte ich zu Robert, und noch in der Nacht versuchten wir uns mit eigenen Augen zu überzeugen, aber das Grenzgebiet war weiträumig abgesperrt.
Ich kriegte einen Anfall und schrie Robert noch auf der Straße an. Dabei achtete ich nicht auf die beiden grauen Gestalten, die uns wie immer gefolgt waren. Denn natürlich wurde ich trotz meiner Agententätigkeit – oder gerade deswegen – überwacht.
»Dieser Staat wird bald ein einziges großes Gefängnis sein und wir sind die Insassen!«, machte ich meinem Unmut lauthals Luft. »Begreifst du das denn nicht
?
Wie kann man nur ideologisch so verbohrt sein
?
Wenn das dein Sozialismus ist, dann will ich tausendmal lieber im Kapitalismus leben! Die Arbeiter auf der Stalinallee haben es schon 1953 geahnt, wo es mit diesem Staathingeht, sonst hätten sie nicht bereits damals gerufen, dass sie freie Menschen sein wollen!«
Robert war mein lauter Ausbruch unangenehm, er zog mich zur Seite und wollte mich beruhigen. Immer wieder schielte er dabei zu den Ledermänteln von der Stasi rüber, die uns nun ganz offensichtlich beobachteten.
»Bitte, Lysette, beruhige dich. Wir werden observiert …«
»Ach, was für eine Neuigkeit!«
»Lass uns nach Hause gehen und über alles in Ruhe reden … es findet sich eine Lösung …«
»Auf die bin ich gespannt«, sagte ich immer noch wütend, aber auch schon verzweifelt, weil ich befürchtete, nun nicht mehr nach Berlin fahren zu können, um dort zu singen und …
Warum war ich überhaupt noch einmal zurückgekommen
?
Wegen Robert
?
Nein, hauptsächlich wegen Hannah. Ich würde mein Kind hier nicht zurücklassen. Robert war erwachsen, er musste für sich selber die Wahl treffen, aber Hannah war erst dreizehn, man wollte sie von der Schule verweisen, weil sie nicht linientreu war.
Sie war, trotz meiner Agententätigkeit in diesem System, ohne jede Chance. Auch für sie lag die Hoffnung allein im Westen …
Ich folgte Robert mit dem festen Willen nach Hause, noch in der kommenden Nacht die DDR zu verlassen. Höchste Eile war geboten, bevor es überhaupt kein Schlupfloch mehr in der Grenze gab. Als uns die beiden Ledermäntel begegneten, sah ich ihnen forsch ins Gesicht, ging erhobenen Hauptes an ihnen vorbei und dachte: Mich kriegt ihr nicht!
Meine Großmutter hatte einen sehr engagierten und anschaulichen Schreibstil, und nachdem ich ein Foto von ihr auf einem der beiliegenden Zeitungsausschnitte angeschauthatte, das sie berauschend schön und selbstbewusst in einem sexy Kleid auf der Bühne eines Berliner Nachtclubs
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