Die Dunkle Erinnerung
wäre.
Stattdessen ging er auf die Tür zu, die in den anderen Teil des Herrenhauses führte. Tagsüber stand sie offen, doch abends, wenn der General die Dienste des Personals nicht mehr benötigte, wurde sie abgeschlossen. Nur die Haushälterin und der Butler durften einen Schlüssel haben.
Ryan fragte sich, wie sie den Verlust des Schlüssels vor dem General geheim gehalten hatte. Ob der Butler sie deckte? Und welchen Gefallen schuldete sie ihm dafür?
Vor der Tür zögerte er.
Wenn er hindurchging, gab es keine Entschuldigung mehr für ihn. Dies war verbotenes Terrain, und Ryan schauerte bei dem Gedanken, was ihm blühte, wenn er erwischt würde. Besonders jetzt, wo Trader im Haus war.
Plötzlich verließ ihn der Mut.
Was hatte er sich bei dieser Sache nur gedacht?
Die Frage ließ Ryan bis ins Innerste erbeben. So etwas Verrücktes! Er hatte doch erlebt, was mit den Kindern geschah, die ihren Besitzern gegenüber ungehorsam waren. Er hatte doch vor langer Zeit gelernt, wo sein Platz war!
Ryan drehte sich um und hatte bereits die Hälfte der Küche durchquert, als er wie angewurzelt stehen blieb.
Du bist doch auch ein Gefangener.
Codys Worte. Eine Anschuldigung, die er bereits am ersten Tag ausgestoßen hatte. Immer wieder hatte der Junge Ryan diese Worte trotzig hingeschleudert und verlangt, dass der Ältere ihm helfe. Zwar hatte er mittlerweile mit seinem Essstreik aufgehört, doch Ryan wusste, dass Cody noch lange nicht kapitulierte. Wahrscheinlich wollte er Kräfte für einen nutzlosen Fluchtversuch sammeln.
Codys Verhalten erregte Ryans Zorn; zugleich war ein Trotz in ihm aufgekeimt, den auch die Stimme der Vernunft nicht zum Schweigen bringen konnte. Er war hier gewiss nicht das Opfer. Oder ein Gefangener. Und das würde er Cody beweisen.
Bevor er sich eines Besseren besinnen konnte, schloss Ryan die Tür auf, schlüpfte rasch hindurch und sperrte sie wieder zu. Er wollte nicht, dass ein Bediensteter sie offen vorfand. Währenddessen schrie eine Stimme in seinem Innern, er solle aufgeben und zurück in sein Zimmer gehen.
Doch Ryan ignorierte diese warnende Stimme. Er ging durch den Korridor zur großen Halle. Da der Flur nur spärlich beleuchtet war, fiel es ihm nicht schwer, sich zu verstecken, indem er sich an die Wand drückte. Trader würde jetzt im Arbeitszimmer des Generals sein, dort hielt er sich bei seinen Besuchen meistens auf.
Ryan war nur zwei-, dreimal in diesem Raum gewesen: einmal, als der General nach ihm verlangt hatte, und einmal, als er auf seinem nächtlichen Streifzug gewesen war. Er erinnerte sich an ein großes Zimmer, dunkel getäfelt und mit schweren Ledersesseln möbliert. Eine ganze Wand wurde von einem gemauerten Kamin eingenommen, vor dem der General seinen abendlichen Brandy zu trinken pflegte, zu seinen Füßen die treuen Dobermänner.
Ryan hasste und fürchtete diese Hunde. Fast so sehr wie Trader.
Über dem Kamin hing das Bildnis eines kriegerisch aussehenden Mannes in Uniform. Die Diener behaupteten, es sei der Vater des Generals, der seinen Sohn regelmäßig verprügelt und seine Familie nach seinem Tod mittellos zurückgelassen habe. Ryan vermutete, dass diese Geschichte bloß Dienstbotengeschwätz war. Und falls an diesen Geschichten tatsächlich etwas dran war, warum hängte der General dann ein solches Erinnerungsstück in seinem Lieblingszimmer auf?
Während Ryan diese Frage durch den Kopf ging, schlich er durch einen langen, schmalen Flur hinter dem Arbeitszimmer, Speisesaal und Salon entlang zur Pantry. Vor Jahren hatten die Dienstboten von diesem Raum aus den Herrschaften das Essen serviert. Nun waren die Türen im Korridor verschlossen, die Pantry leer und unbenutzt. Ein guter Ort zum Verstecken und Lauschen.
Ryan ließ sich auf den Boden neben einen Lüftungsschacht gleiten. Durch das Gitter konnte er Gesprächsfetzen aus dem Arbeitszimmer mithören. Obwohl die beiden Männer zu leise sprachen, als dass er etwas hätte verstehen können, bekam er doch den Klang ihrer Stimmen mit. Besonders den von Traders. Tief, leise und drohend.
Ryan überlief ein Schauder. Nun erst erkannte er das Ausmaß seiner Dummheit. Er hätte niemals herkommen dürfen. Was hatte er sich erhofft? Was sollte sich für ihn ändern? Immerhin war der General gut zu ihm gewesen. Großzügig.
Vor zwei Jahren hatte Ryans Besitzer ihn auf die Straße setzen wollen. Er war zu alt geworden – ein weiteres Maul, das gefüttert werden wollte. Doch der General hatte ihn
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