Die Dunkle Erinnerung
wiederholen?«
»Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Bestimmt nicht.« Ryan schluchzte. Der Schmerz war furchtbar. »Niemals …«
Ein letzter Tritt, und alles verschwamm vor seinen Augen. Doch ein paar Sekunden lang. Nicht lange genug.
Trader kam von der Seite wieder heran. »Ab in dein Zimmer mit dir. Wenn ich wiederkomme und du bist immer noch hier, töte ich dich. Hast du begriffen?« Sein Gesicht schwebte groß und drohend über Ryan, der nur noch schluchzen konnte. Dann war Trader verschwunden, so leise, wie er gekommen war.
Ryan war wieder allein. Und am Leben.
Er versuchte aufzustehen, doch der Schmerz in seiner Brust zwang ihn wieder auf die Knie. Zentimeter um Zentimeter kroch er Richtung Tür. Mit einer Hand hielt er sich die Rippen, mit der anderen zog er sich über den Boden, wobei er eine Blutspur hinterließ.
Er musste hier raus, musste wieder in sein Zimmer. Was für ein Idiot er gewesen war! Er kannte die Regeln, und nun hatte er sie gebrochen. Er verdiente seine Strafe, wenn nicht sogar Schlimmeres. Eigentlich hätte er …
Ihm wurde schwarz vor Augen.
9.
General William Neville wartete in seinem Arbeitszimmer.
Zu seinen Füßen saß der riesige Hund Daimon, die Ohren gespitzt, den Körper sprungbereit angespannt. Die scheußlichen Laute aus dem Nebenraum waren Herrn und Hund gleichermaßen unangenehm. Sie hörten, wie der heimliche Lauscher zu Boden ging, hörten ihn wimmern und flehen, hörten die leise, drohende Stimme von Gage.
Daimon knurrte vernehmlich.
William streichelte seinen Hund. »Ruhig, mein Junge.«
Dann trat Stille ein.
Seufzend nahm William einen Schluck Cognac. Er hasste Gewalt. Doch leider gab es Situationen, in denen sie unumgänglich war.
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer, und Isaac Gage kam zurück. Sogleich wandte er sich zum Sideboard und schenkte sich einen Drink ein. Der Mann trank mit Vorliebe Bourbon. Sehr patriotisch. Wenigstens hatte William ihm im Laufe der Jahre beibringen können, eine bessere Marke zu bevorzugen.
Gage stürzte den Drink hinunter, dann trat er an den Kamin und ließ sich auf den anderen Sessel sinken.
»Es war der Junge … Ryan«, sagte William. »Oder nicht?« Es konnte kein anderer gewesen sein. Kein anderer seiner Dienstboten hätte es gewagt, ihm zu trotzen. Und nur ein Mann wie Gage war imstande, die Anwesenheit des Jungen im angrenzenden Raum zu ahnen. Der Mann hatte wirklich einen sechsten Sinn.
»Er wird zu einer Gefahr«, sagte Gage.
»Das ist schade … eine große Vergeudung.« Der Junge war ein Ass in der Betreuung jüngerer Kinder. Und treu ergeben. »Aber er ist in einem schwierigen Alter. Sechzehn. Da werden die Jungen aufsässig.«
Gage verzog die Lippen zu einem zynischen Grinsen. »Ehrlich gesagt, ich habe Ihre seltsame Anhänglichkeit an Ihre Diener nie verstanden. Warum machen Sie sich Sorgen um diesen Jungen, nachdem er Ihre Befehle missachtet hat?«
William zuckte die Achseln. »Sie sind wie die Kinder … besser gesagt, eher wie mein treuer Daimon. Einfältig. Und nützlich, solange sie mir ergeben sind.« Mit den Fingerspitzen streichelte er den großen Hund. »Dafür kümmere ich mich um sie. Bis …«
»Bis sie Ihnen untreu werden.«
»Ich bin kein Dummkopf, Isaac.« Glaubte der Mann wirklich, William würde Ryans Ungehorsam ungestraft hinnehmen?
»Wir müssen uns mit ihm befassen.«
William wischte den Vorschlag mit einer Handbewegung beiseite. Jetzt wollte er noch nicht darüber nachdenken. »Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, was zu tun ist.«
William und Gage hatten schon lange eine überaus einträgliche Geschäftsbeziehung. Sie gründete sich auf Gages einzigartiges Talent und auf Williams Kontakte in aller Welt, doch keiner der beiden fragte nach, wie der andere seine Seite des Geschäfts betrieb. Es war sicherer so und verletzte Williams Gefühle nicht.
»Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Isaac.«Es war nicht Gages Art, Fehler zu begehen, und nun hatte er gleich zwei Patzer gemacht. »Erst bringen Sie den Jungen viel zu früh her und dann noch das Problem mit der kleinen Madden.«
Gages Wangenmuskeln arbeiteten. »Ich habe es Ihnen erklärt …«
»Ja, Sie sind erkannt worden. Was soll ich denn Ihrer Meinung nach meinem Kunden sagen?«
»Sagen Sie ihm, es gibt noch andere kleine Mädchen.«
»So einfach ist das nicht.« Dank Internet und der Dummheit der Leute, die Fotos ihrer Sprösslinge ins Netz stellten, konnten Williams Kunden die
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