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Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
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verschwunden. Meist erledigte er seine Geschäfte in fünfzehn, zwanzig Minuten. Ryan konnte sich an kein einziges Mal erinnern, wo es anders gelaufen wäre.
    Irgendetwas ging vor sich, und das machte ihn nervös.
    Unter seiner Matratze zog er den Schlüssel hervor, den er vor ein paar Wochen der Haushälterin gestohlen hatte. Er argwöhnte, dass sie von dem Diebstahl wusste, doch sie würde ihn niemals melden. Ryan gefiel sich in dem Gedanken, dass sie mütterliche Gefühle für ihn hegte, doch wahrscheinlich lag es eher daran, dass sie den Zorn des Generals fürchtete, sollte er vom Verlust des Schlüssels erfahren. Die Mindeststrafe bestand darin, dass er sie in ihre Heimat zurückschickte, ohne ihr das versprochene Geld zu zahlen, das ihr die vielen Monate in den USA erträglich machen sollte.
    Das Personal bestand ausschließlich aus Landsleuten des Generals – ein robuster, hart arbeitender, deutschstämmiger Menschenschlag. Sie machten ihren Job und mischten sich nicht in die Geschäfte des Generals ein. Keiner von ihnen sprach mehr als ein paar Brocken Englisch, doch während der zwei Jahre, die Ryan in diesem Haus lebte, hatte er genug Deutsch gelernt, um sich mit ihnen zu verständigen. Wobei er oft so tat, als verstünde er weniger, als tatsächlich der Fall war. Das passte sowohl ihm als auch den schweigsamen Domestiken, die ihrerseits vorgaben, nichts über Ryans Aufgabe im Haus zu wissen. Meistens beachteten sie ihn nicht einmal.
    Sie kamen nur aus einem Grund hierher. Sie wollten für ein Jahr, allerhöchstens zwei in den Staaten arbeiten, um dann heimzukehren mit einer Dollarsumme, die ihnen wie ein Vermögen vorkam.
    So erkaufte sich der General ihre Ergebenheit. Und ihr Schweigen.
    Ryan hingegen war nur sich selbst treu, ihn interessierte lediglich sein Überleben. Und genau deshalb musste er heute Abend herausfinden, was im Haus vorging.
    Mit dem Schlüssel in der Hand schlich er leise in den Korridor.
    Stille.
    Der Schlüssel öffnete ihm die Tür zum verbotenen Teil des Herrenhauses. Im Ostflügel durfte er sich völlig frei bewegen, dort befanden sich die Küche, die Dienstbotenräume und die Schlafzimmer für ihn und einen gelegentlichen Gast – wie Cody. Doch der Rest des Hauses, ob innen oder außen, war gewissermaßen Sperrgebiet.
    Beim letzten und einzigen Mal, als Ryan es gewagt hatte, den Schlüssel zu benutzen, hatte er die stillen, prunkvollen Gemächer des Generals erforscht. In jener Nacht hatte er sich wie ein Spion auf verbotenem Territorium gefühlt. Doch als ein Dienstmädchen das Ankleidezimmer betrat, in dem er soeben einen der Schränke durchwühlte, hatte ihn der Mut verlassen. Gerade noch rechtzeitig hatte er sich im Schrank versteckt. Seitdem hatte er nie mehr den Mut aufgebracht, den Schlüssel noch einmal zu benutzen.
    Doch heute Nacht wollte er es wieder riskieren.
    Cody hatte ihn einen Feigling genannt, aber das war nicht die Wahrheit. Ryan hatte nur gelernt, in einer Welt zu überleben, die Opfer forderte und kaum Überlebende zuließ. Er musste herausfinden, was Trader plante, um seinen eigenen Platz im Herrenhaus zu sichern. Mit Tapferkeit oder Feigheit hatte das nichts zu tun.
    Lautlos schlich Ryan die Treppe hinunter. Darin war er ein Meister. Er hatte es sehr früh gelernt und jahrelang geübt. Wenn man keinerlei Aufmerksamkeit auf sich lenkte, wurde man von niemanden gerufen oder aus einer Gruppe herausgepickt. Verschmelze mit dem Hintergrund, dann wird jemand anders ausgewählt …
    Am Fuß der Treppe wartete er und lauschte. Zu dieser späten Stunde sollte eigentlich niemand in der Küche sein, doch Ryan wollte es nicht darauf ankommen lassen. Selbst hier durfte er nicht ungestraft herumstöbern.
    Noch immer tiefe Stille.
    Er drückte die Tür einen Spalt weit auf und spähte in die Dunkelheit, die nur von einer schwachen Glühbirne über dem Herd matt erhellt wurde. In der Küche war bloß die Katze der Köchin, die auf dem Herdabzug döste.
    Ryan schlüpfte hinein und schob die Tür vorsichtig hinter sich zu.
    So weit, so gut.
    Doch ihm war alles andere als wohl in seiner Haut. Er holte tief Luft, versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken und sein heftig klopfendes Herz zu beruhigen. Was für ein verrückter Einfall, hierher zu kommen! Was immer in diesem Haus vorging – es hatte ihn nicht zu interessieren. Herumzuspionieren würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen.
    Ryan wusste genau, dass er besser wieder nach oben gegangen

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