Die Dunkle Erinnerung
unserem Haus lag. Er hatte ein grellorangefarbenes Hawaiihemd an. Wir haben immer gekichert und ihn einen ›Zugvogel‹ genannt.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Erin schwieg eine Minute, dann wagte sie einen neuen Vorstoß. »Mom hat mir an dem Tag, als du verschwunden bist, Geld für Eis mitgegeben. Ich meine, du hättest dir ein Sahneeis geholt.«
Claire hob den Blick, voller Zorn und Angst. »Warum fängst du jetzt davon an?«
»Nun … das war ein seltsamer Zufall.«
»Ach ja?« Claire klappte den Block zu und steckte mit zitternder Hand die Stifte in die Schachtel zurück. »Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen.«
Erin tat es in der Seele weh, Claire an Ereignisse zu erinnern, die sie lieber tief in ihrem Innern begraben wollte. Doch wie Donovan gesagt hatte: Hier stand das Leben eines kleinen Jungen auf dem Spiel.
»Claire, du musst mir helfen. Der Mann gestern im Park hatte unheimliche Ähnlichkeit mit dem Zauberer, den wir damals in Miami gesehen haben. Bitte!« Sie nahm Claires Hände in die ihren und versuchte, der Schwester ein wenig von ihrer Kraft einzuflößen. »War er der Mann, der dich entführt hat?«
Mit einem Ruck befreite Claire ihre Hände und stand auf. »Ich muss jetzt rein.«
Erin folgte der Schwester und nahm wieder ihre Hand. »Kann es derselbe Mann sein? Denn es wird ein Junge vermisst, und der Polizei läuft die Zeit davon …«
Claire wandte sich ab. »Ich will, dass du nie mehr kommst.«
»Claire, bitte …«
Doch Claire presste die Hände auf die Ohren und wich vor ihr zurück.
»Was ist denn hier los?« Marta war von hinten an sie herangetreten und schlang ihre Arme um Claire, die außer sich war vor Angst. »Was hast du zu ihr gesagt?«, herrschte sie Erin wütend an.
Erin drehte sich um und gewahrte Janie, die zurückgeblieben war und nun mit weit aufgerissenen Augen auf ihre Mutter starrte. In der Hand hielt sie zwei Eis am Stiel: ein angeknabbertes Wassereis und ein Vanilleeis, noch im Papier. Neben ihr lagen zwei weitere Eis auf dem Boden. Marta hatte sie fallen gelassen, als sie zu Claire gerannt war.
Ein Gefühl der Schuld durchfuhr Erin wie ein Blitzstrahl, doch sie versuchte, gelassen zu bleiben. Sie hatte Claire nicht wehtun wollen. Aber sie wusste, dass sie diese Fragen wieder stellen würde, wenn sie damit Cody Sanders helfen konnte. Claires Schicksal war nicht zu ändern, aber vielleicht konnte man verhindern, dass dem Jungen das Gleiche widerfuhr. Und ob Claire es wahrhaben wollte oder nicht: Sie hatte Erin die gewünschte Antwort gegeben.
»Es tut mir Leid, Claire.« Erin hielt der Schwester die Hand hin, doch diese drängte sich enger an Marta und begrub ihr Gesicht an deren Schulter. Für alles, was dir geschah. Erin zog die Hand zurück.
»Ich glaube, du solltest lieber schon mal zum Wagen vorgehen«, sagte Marta.
Erin nickte.
»Janie, geh mit deiner Tante. Ich kümmere mich um deine Mutter und komme nach, sobald sie sich beruhigt hat.«
Janie griff nach Erins Hand. Schweigend schlenderten die beiden zum Parkplatz und warteten am Auto. Erin spürte, dass sie Janie etwas Tröstliches sagen, sich zumindest entschuldigen sollte, weil sie ihr den Besuch verdorben hatte, brachte es aber nicht über sich. Dann nämlich hätte sie Cody Sanders erwähnen müssen. Doch Janie stellte gar keine Fragen – ein trauriges Zeichen dafür, wie sehr die Krankheit der Mutter das Kind bereits beeinflusst hatte.
Nach einer halben Stunde Warten stieß Marta zu ihnen.
»Wie geht's ihr jetzt?«, fragte Erin und trat einen Schritt vor.
Marta sah sie stirnrunzelnd an, dann schien sie in sich zusammenzusinken. Die Anspannung war vergangen. »Es wird schon wieder. In den nächsten vierundzwanzig Stunden bleibt sie unter strenger Beobachtung, damit die Ärzte sicher sein können, dass sie nicht …« Marta warf einen Blick auf Janie. »Dass sie sich ausruht.«
»Es tut mir Leid, dass immer du die Last tragen musst, Marta.«
Die Ältere zuckte ergeben die Achseln. »Dafür habe ich auch etwas sehr Schönes.« Sie streichelte Janies Wange. »Und ich will gar nicht wissen, was du zu ihr gesagt hast, denn ich weiß, dass du's auf jeden Fall gut gemeint hast.«
Erin lächelte gequält und legte einen Arm um Janies Schulter.
»Vielleicht sollten wir lieber nicht nach Miami fahren«, sagte Marta mit einem nervösen Blick auf die Klinik. »Ich lasse dich nicht gern allein, wenn es Claire nicht gut geht.«
»Nein«, sagte Erin bestimmt. »Fahrt ruhig. Ihr habt
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