Die Dunkle Erinnerung
Worte einen Moment wirken. »Ich will den Mann finden, der mir meine Schwester genommen hat. Und Garth wird mir sagen, wo ich ihn finde.«
15.
Isaac sah ihnen nach, als sie über den Parkplatz gingen.
Sie waren ganz dicht an ihm vorbeigekommen und hatten nicht einmal hingeschaut. Erin, Claires kleine Tochter und später die ältere Frau, die wie ein Schutzengel über ihnen zu schweben schien. Isaac hatte am Tisch der Empfangsdame gestanden und seinen derzeitigen Namen sowie seinen Termin angegeben, als Erin an ihm vorbeiging. Er hatte noch etwas Zeit, deshalb hatte er sich ans Fenster gestellt und Erin und ihre Nichte beobachtet, die auf die ältere Frau warteten.
Isaac musste gestehen, dass er ein wenig enttäuscht war von Erins mangelndem Interesse. Zugegeben, heute trat er ganz anders auf als gestern im Park. Er war ein großer, schlanker Mann mit leicht ergrautem Haar und einem perfekt sitzenden Anzug. Kein Vergleich mit dem dicken Eismann oder dem frommen Pater von gestern Abend. Und doch hätte Isaac erwartet, dass sie wenigstens einen Schimmer von Erkennen gezeigt hätte. Immerhin hatte sie ihn nach neunzehn Jahren wiedererkannt.
»Dr. Holmes?«
Isaac wandte sich der Empfangsdame zu. »Ja?«
»Dr. Schaeffer kann Sie jetzt empfangen.«
»Danke.« Obgleich Isaac lieber am Fenster stehen geblieben wäre, bis Erin und die anderen abgefahren waren, folgte er der alten Vogelscheuche durch die Eingangshalle zum Verwaltungstrakt. Bald schon würde er sie alle wiedersehen. Aber zuerst war Claire an der Reihe.
Sie betraten ein großes Eckbüro. Ein Mann im Anzug, auf dessen Zügen das geübte Lächeln eines Politikers stand, streckte ihm die Hand entgegen. »Dr. Holmes, ich freue mich, Sie kennen zu lernen.« Er packte Isaacs Hand mit festem Griff. »Ich bin Robert Schaeffer, der Leiter von Gentle Oaks. Seit Jahren lese ich Ihre Veröffentlichungen über das posttraumatische Stress-Syndrom. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Ehre es für mich bedeutet, dass Sie für Ihren Besuch unsere Klinik ausgewählt haben.«
Isaac lächelte verbindlich, wie es einem weltweit anerkannten Schafskopf, dem wahren Jacob Holmes, wohl anstand. »Ich habe gehört, dass Sie hier auch viele interessante Dinge tun.«
»Nun, wir geben unser Bestes. Kann ich Ihnen vielleicht einen Kaffee oder etwas anderes anbieten?«
»Nein, nichts, danke. In ein paar Stunden geht mein Rückflug.«
»Dann lassen Sie uns mit dem Rundgang beginnen.«
Der Wichtigtuer führte Isaac durch die Einrichtung und schwafelte dabei ununterbrochen über seine angeblich besonders innovativen Behandlungsprogramme. Gruppentherapie. Kunsttherapie. Tiertherapie. In Isaacs Ohren klang das alles nach geballtem Schwachsinn, aber er nickte, stimmte dem aufgeblasenen Kerl zu und warf ab und an eine interessierte Frage ein. Immerhin war er ja selbst in gewisser Hinsicht Experte für Geisteskrankheiten.
Noch langweiliger als die Behandlungen, über die Schaeffer schwadronierte, war die Einrichtung der verschiedenen Häuser, die laut Schaeffer den Patienten den Eindruck eines gemütlichen Heims verschaffen sollte. Fast hätte Isaac laut herausgelacht. Wenn diese Leute unbedingt ein Zuhause brauchten, hätte man sie doch einfach dort lassen sollen. Es wäre auch verdammt viel billiger.
»Das ist ja alles sehr interessant«, sagte er und gab sich keine Mühe, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen. Holmes war eine weltweit führende Autorität auf dem Gebiet des PTSS und hatte es nicht nötig, höflich zu sein. »Doch viel mehr würde mich einer Ihrer Patienten interessieren.«
»Ach so, natürlich!« Schaeffers Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Offenbar war er so sehr von seinem geschätzten Besucher fasziniert, dass er die Spitze nicht einmal bemerkt hatte. »Ich habe zurzeit einige sehr interessante Bewohner. Einen jungen Mann, einen Kriegsveteranen, dem es in den ersten Jahren nach dem Krieg ganz gut zu gehen schien, doch dann …«
»Nein, nein. Keine Veteranen, Doktor. Davon habe ich schon allzu viele behandelt. Es gibt nichts Neues auf diesem Gebiet.«
»Nun«, Schaeffer schien ein wenig bestürzt, »dann hätten wir noch Tara, ein Vergewaltigungsopfer.«
Isaac wischte auch diesen Vorschlag beiseite. »Was ist mit der Frau, über die Sie letztes Jahr geschrieben haben?« Schaeffer hatte ein trauriges kleines Traktat verfasst, das Isaac in seinen Recherchen fast übersehen hätte. »Missbraucht als kleines Mädchen. Ich glaube, Sie haben sie als
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