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Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
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zog sie zu einem Picknicktisch unter einer weit ausladenden Eiche, deren Laub sich allmählich gelb verfärbte. In ein zwei Wochen würde sie ihren vollen Herbstschmuck tragen.
    Erin folgte mit dem Korb voller Leckereien. Janie hielt Schritt.
    Während Marta mit dem Auspacken begann, zog Janie ihre Mutter am Ärmel. »Kann ich dir jetzt mein Bild zeigen?«
    »Nach dem Essen«, erwiderte Claire zerstreut. Ihre Aufmerksamkeit war immer noch auf Marta gerichtet. »Hast du auch mein Leibgericht mitgebracht?«
    Das Gesicht des kleinen Mädchens wurde düster.
    »Janie ist wirklich eine kleine Künstlerin«, sagte Erin, empört über die Gleichgültigkeit ihrer Schwester.
    Claire begegnete ihrem Blick, und eine Mischung aus Gereiztheit und Verständnis spiegelte sich in ihren Augen. »Natürlich kann sie gut malen. Das hat sie schließlich von mir.«
    »Dann solltest du dir vielleicht die Zeit nehmen, ihre Bilder anzuschauen. Sie hat lange gebraucht, um …«
    »He, ihr beiden!«, rief Marta. »Janie, hilf mir mal beim Decken.«
    Janie warf einen vorwurfsvollen Blick auf Tante und Mutter, nickte dann und kletterte auf die Bank.
    Erin biss sich auf die Zunge, es ärgerte sie, dass sie die Geduld verloren hatte. Wenn sie mit Claire zusammen war, verhielt sie sich stets wie die Zwölfjährige, die ihre kleine Schwester verloren hatte, und nicht wie eine Erwachsene. Sie sollte es besser wissen. Sie war in dieser Beziehung die Erwachsene, diejenige, die die Lage unter Kontrolle haben sollte. Und doch ließ sie es jedes Mal zu, dass Claire sie auf die Palme brachte, besonders durch ihren Mangel an Mutterinstinkt.
    »Marta hat Karamellkrem gemacht«, sagte sie daher mit einem entschuldigenden Lächeln. Es war Claires Lieblingspudding.
    Der Rest des Picknicks verlief ohne weitere Dispute. Claire schaute während des Essens Janies Bild von ihrer Schule an und ließ sich von dem Mädchen sämtliche Einzelheiten des Gebäudes zeigen und erklären. Als sie damit fertig waren, schlug Janie ein Blatt auf ihrem Zeichenblock um und schob ihn über den Tisch.
    »Jetzt musst du was malen, Mommy.«
    Claire errötete. Der unerwartete Vorschlag schien ihr Freude zu bereiten. »Okay. Hast du Stifte dabei?«
    Janie holte die Schachtel mit ihren kostbaren Buntstiften aus der Tasche.
    Sah man Claire bei der Arbeit zu, gab es keinen Zweifel mehr über die Herkunft von Janies Talent. Claire zeichnete das gefällige Steingebäude, das eher einem teuren Internat ähnelte als einer psychiatrischen Klinik. Sie vergaß auch nicht die stattlichen Eichen und den gepflegten Rasen. Doch anders als Janie, die stets viel Wert auf Details legte, malte Claire in groben Strichen, sodass ihre Werke wie aus einer anderen Welt wirkten.
    Unvermittelt überfiel Erin Trauer beim Gedanken an die Verschwendung von Claires Talent und ihren Anteil der Schuld. Was wäre wohl aus Claire geworden, hätte man sie nicht vor neunzehn Jahren aus einem Park in Miami entführt?
    Während Claire sich ihrem Bild widmete, machten Marta und Janie sich auf die Suche nach Eis, das es an Sonntagnachmittagen für Gäste und Patienten gab. Erin schaute Claire eine Zeit lang zu, und ihre Gedanken schweiften zu Cody Sanders.
    Anders als Claire hatte er sein Leben noch vor sich. Erin fragte sich, welche Talente er besaß. Auch er würde diese Gaben möglicherweise verlieren, wenn die Polizei bei der Suche versagte. Falls er überhaupt mit dem Leben davonkam – welchen Schaden würden die Entführer bei ihm anrichten? Würde er in einer geschlossenen Anstalt landen wie Claire, oder würde er selbst zu einem Monster? Und wenn Erin die Macht besaß, ein solches Schicksal aufzuhalten, wie konnte sie ihm dann den Rücken zuwenden?
    Unter der Last der letzten Frage rang sie sich zu einer Entscheidung durch, von der sie hoffte, sie nie bereuen zu müssen.
    »Du wirst mir nicht glauben, was ich gestern gesehen habe«, begann sie vorsichtig.
    Claire schien nicht besonders interessiert. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Bild, das unter ihren Händen entstand. »Hmmm.«
    »Einen Eismann, der den Kindern im Park Zaubertricks vorführte.«
    Claires Schultern versteiften sich. »Ach ja?«
    »Kannst du dich noch daran erinnern, in Miami?«
    »Nein.« Claires Hand huschte nun schneller über das Papier, sie zeichnete den Weg aus Trittsteinen, der kreuz und quer über den Rasen verlief.
    »Natürlich kannst du dich erinnern! Er ist ein paar Samstage hintereinander in den Park gekommen, der in der Nähe von

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