Die Dunkle Erinnerung
nächsten vierundzwanzig Stunden auftreiben kannst.«
»Hat das Kind auch einen Namen?« Andersons Stimme klang leicht gepresst.
Erin zögerte. Sie wusste, nun würde sie eine Information über sich selbst preisgeben, die sie normalerweise sorgfältig vor den meisten Kollegen verbarg. Aber sie brauchte Sams Hilfe, wenn sie das Gewünschte noch rechtzeitig erhalten wollte. »Claire Baker.«
Schweigen.
»Sam?«
»Was soll denn das, Erin?«
»Bitte, Sam, ich brauche die Akten.«
Fast konnte sie die Gedanken in seinem Kopf rattern hören: Sam wog den Gefallen, den er ihr schuldete, gegen ihre Bitte ab. Als CIA-Offizier war Erin ohnehin nicht befugt, in einer Strafsache in den Vereinigten Staaten zu ermitteln, und keinesfalls durfte sie Einblick in einen Entführungsfall nehmen, von dem sie persönlich betroffen war. Das Mindeste war, dass sie ihren Rausschmiss riskierte. Und sie verlangte eine Menge von Sam Anderson, wenn sie ihn veranlasste, sich auf dem gefährlichen Ast ebenfalls weiter vorzuwagen.
Schließlich sagte er: »Ich weiß, ich schulde dir was. Aber wenn ich so etwas mache …« Er hielt inne. Als er fortfuhr, war der belustigte Tonfall wieder in seiner Stimme zu hören. »Dann musst du auch mal mit mir essen gehen.«
Erin musste lachen. »Abgemacht. Ich lade dich ein. Und ich bringe meine Nichte mit, okay? Sie ist sieben und steht total auf Pizza.«
Anderson seufzte. »Von mir aus. Okay, ich setz mich gleich dran und treffe dich dann in ein paar Stunden.«
»Danke, Sam.«
»Schon gut.« Nun klang er wieder ernst. »Ich hoffe nur, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht.«
»Ich auch.« Erin beendete das Gespräch, holte tief Luft, um sich für den zweiten Anruf zu wappnen, zog eine Visitenkarte aus der Tasche und wählte die aufgedruckte Nummer.
Er nahm beim ersten Läuten ab. »Donovan.«
»Hier Erin Baker.«
Schweigen.
Beinahe konnte sie ihn vor sich sehen. Das zerzauste sandfarbene Haar, das zerknitterte Hemd mit der gelockerten Krawatte, die vom Schlafmangel blutunterlaufenen Augen.
»Können Sie eine Unterredung mit Roland Garth arrangieren?«, fragte Erin.
»Sie haben mit Ihrer Schwester gesprochen.« Eine Feststellung.
»Können Sie?«
»Hab ich schon. Ich fliege um halb fünf von Dulles.«
Erin schaute auf die Uhr. Verdammt. Schon nach zwei. Sie hatte nicht genug Zeit. Sie würde Sam noch einmal anrufen und bitten müssen, die Akte Garth zum Flughafen Dulles zu bringen. Auf dem Flug an die Westküste konnte sie die Akte lesen. Allerdings fehlte ihr auch noch das Flugticket. Sam Anderson bewegte sich auf dem gefährlichen Ast immer weiter hinaus. Bald würde Erin ihm mehr als eine Pizza schulden.
»Okay, ich brauche neunzig Minuten«, sagte sie. »Ich treffe Sie dann am Flughafen.«
»Moment mal, ich habe nicht gesagt, dass Sie mitkommen.«
Erin achtete nicht auf seinen Einwurf. »Sagen Sie mir die Flugnummer.«
»Sie sind Zivilistin. Mein Chef würde mir die Dienstmarke abnehmen, wenn ich Sie mitfliegen lasse.«
»Dann sagen Sie es ihm eben nicht. Sie scheinen ja auch sonst gegen Regeln zu verstoßen, wenn es Ihnen in den Kram passt.«
»Dann sagen Sie mir einen Grund, warum ich jetzt gegen die Regeln verstoßen sollte.«
»Morgen Abend gehe ich auf einen Empfang der deutschen Botschaft. Der Botschafter kehrt nach Berlin zurück, es ist seine Abschiedsparty. Ich rechne damit, dass William Neville auf dem Empfang ist, und ich will mit ihm reden. Aber zuerst will ich Garth sprechen.«
Schweigen.
»Donovan?«
»Hat Ihre Schwester meine Theorie bestätigt?«
»Nicht ganz. Ich hab versucht, mit ihr zu reden, aber sie hat dichtgemacht und uns rausgeworfen.« Erin warf einen Blick zum Auto, wo Marta die aufgeregte Janie beruhigte. »Wie die meisten Selbstverletzer tut Claire sich das an, um Stress zu mildern oder irgendeinen schrecklichen Schmerz zu verbergen. Zurzeit steht sie unter Beobachtung, weil ihre Ärzte glauben, ich könnte vielleicht etwas ausgelöst haben.«
»Das tut mir Leid.«
»Nein, tut es nicht.« Erin seufzte. »Und mir auch nicht. Dieser Junge …«
Einen Augenblick schwiegen beide. Dann fuhr Erin fort: »Aber sie erinnert sich. Zumindest an den Mann im Park. Diesen Eismann mit den Zaubertricks. Ich habe es ihr angesehen.«
»Sind Sie sicher?«
»Deshalb komme ich ja mit, wenn Sie Roland Garth verhören. Wenn Sie sich weigern, werde ich ein paar Leute anrufen. Und glauben Sie mir, Donovan, ich komme in dieses Gefängnis rein.« Erin ließ ihre
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