Die Dunkle Erinnerung
eigentlich durfte er daran nicht denken. Es gab Wichtigeres zu tun: einen vermissten Jungen zu finden und einen Serienkidnapper, der nur als der Magician bekannt war.
»Ich sollte auf Claire aufpassen an dem Tag, an dem sie verschwand, aber das war mir natürlich zu viel Arbeit.« Erin schaute aus dem Fenster. »Ich wollte an dem Tag mit meinen Freunden zusammen sein. Also habe ich ihr ein Eis gekauft und gesagt, sie solle verschwinden. Und das«, ihre Stimme brach, doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle, »das hat sie dann ja auch getan.«
Alec unterdrückte die spontane Regung, sie zu trösten und ihr zu versichern, dass die Entführung nicht ihre Schuld gewesen sei – egal, was sie an jenem Tag getan hatte oder nicht. Leider wusste er, dass es keine Worte gab, die ihr Trost spenden oder ihre Gefühle ändern konnten.
Er hatte dasselbe schon hundertmal erlebt. Wenn eine Familie ein Kind vermisste. Immer fielen Sätze, die mit was, wenn und wenn doch nur begannen. Sie führten zu nichts, änderten nichts, dienten anscheinend aber dazu, das tiefe Schuldempfinden auf irgendetwas, irgendwen zu übertragen: auf ein Familienmitglied statt auf einen Fremden, dessen man nicht habhaft werden konnte. Leider führte diese Haltung nur allzu oft zu ehelicher Zerrüttung und zum Auseinanderbrechen von Familien. Immer wurde der Mensch am stärksten in Mitleidenschaft gezogen, der die ganze Schuld auf sich nahm. Alec fragte sich, was die Last dieser Schuld Erin Baker angetan haben mochte. Wie tief ging die Veränderung, was für ein Mensch lebte unter dieser rauen Schale?
Er hätte gern ihre Hand genommen, um ihr Trost zu spenden. Eine schlichte menschliche Geste. Doch auch das war unpassend. Außerdem bezweifelte er, dass sie es ihm erlauben würde.
»Dann kam der Anruf von der Familienfürsorge in San Francisco«, berichtete Erin weiter. Offenbar hatte sie nicht mitbekommen, in welche Richtung seine Gedanken gewandert waren. »Und wieder wurde alles anders. Wir waren ganz aufgeregt, fast verrückt vor Freude. Mom und ich sind nach San Francisco geflogen, um Claire nach Hause zu holen, aber sie war … ein anderer Mensch.«
Alec glaubte ihr aufs Wort. Er hatte das Klassenfoto gesehen, auf dem die süße kleine Claire strahlte. Und dann den Schnappschuss von dem Mädchen, das man vier Jahre später in San Francisco gefunden hatte. Es war kaum fassbar, dass es dasselbe Kind sein sollte.
»Ich war darauf vorbereitet, dass Claire älter geworden war, größer, und wäre damit auch fertig geworden. Aber sie war … zerbrochen. Zum Teil konnten wir es sehen, zum Teil blieb es uns aber verborgen.« Wieder hielt sie inne und holte tief Luft. »Aber das wussten wir ja nicht sofort.«
»Es tut mir Leid, Erin.«
Sie lächelte gequält und schaute ihn an – verlegen, wie ihm schien. »Ihnen tut es Leid.« Ein leises Lachen. »Mir sollte es Leid tun. Sie sind doch nicht verpflichtet, mein Gejammer anzuhören.«
»Vergessen Sie's.« Alec zuckte die Achseln. »Jedenfalls kann ich jetzt besser verstehen, warum Sie so versessen auf die Unterhaltung mit Garth sind.«
»Tja, als meine Mutter noch lebte, bestand ihr Lebensinhalt darin, dafür zu sorgen, dass es Claire besser ging. Jetzt hingegen …« Erin hob die Schultern. »Jetzt ist es meiner Meinung nach an der Zeit, dass der Entführer bezahlt.«
Sie verstummte. Nach einer Weile stellte sie den Sitz zurück und machte die Augen zu.
»Wird 'n langer Flug.« Ihre Stimme war nun wieder kühl, gefasst, geradezu hochnäsig – die Stimme der Frau, die er gestern kennen gelernt hatte. »Ich werde jetzt eine Mütze voll Schlaf nehmen. Das sollten Sie auch tun, Donovan. Sie sehen aus, als hätten Sie eine Woche lang keinen Schlaf gekriegt.«
William war auf dem Rückweg nach Washington, als der Anruf über die sichere Leitung kam. Sein Assistent nahm ab, nickte, reichte dann den Hörer weiter. Bevor auch nur ein Wort fiel, wusste der General, dass es um Erin Baker ging.
»General, ich habe etwas über die Frau herausgefunden.« Selbst auf einer angeblich abhörsicheren Leitung benutzten seine Männer keine Namen.
»Nun sag schon!«
»Sie hat vor einer Stunde einen Direktflug nach San Francisco genommen.«
»Allein?«
»Nein, sie hat sich am Flughafen mit einem Mann getroffen. Groß und blond. Anzug. Wahrscheinlich Polizei, möglicherweise FBI.«
Donovan. Sie wollten zu Garth. William musste jemand nach Kalifornien schicken, der sie am Flughafen abfing. Und sich
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