Die Dunkle Erinnerung
Lady X bezeichnet.«
»Oh ja.« Schaeffers Miene hellte sich auf. »Ein sehr interessanter Fall. Sie wurde im Alter von sieben Jahren entführt und vier Jahre lang gefangen gehalten. Haben Sie meinen Artikel gelesen?«
»Ich würde die Frau gern sehen.«
Schaeffer zögerte. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Sie hat einen problematischen Tag hinter sich.« Er beugte sich näher, sprach im vertraulichen Ton von Kollege zu Kollege. »Ihre Familie war zu Besuch. Wir haben sie unter Beobachtung gestellt, falls sie sich etwas antun sollte.«
Isaac musste aufpassen, dass er nicht grinste wie ein zufriedener Kater. Claire Baker war also selbstmordgefährdet.
Mit seinem Besuch in dieser Klinik riskierte er eine Menge; er suchte nach einer Möglichkeit, Claire zu beseitigen, ohne viel Aufsehen zu erregen – und nun fiel ihm diese Möglichkeit wie ein Geschenk in den Schoß. Er würde Claire nicht töten, das konnte sie durchaus selber besorgen. Wichtig war allein, dass er mit ihr sprach.
Isaac blickte bedeutungsvoll auf seine Uhr. »Wenn es nicht geht, sollte ich mich jetzt auf den Weg zum Flughafen machen. Es war wirklich …«, er legte eine Pause ein, suchte nach dem passenden Wort, das seine Enttäuschung ausdrücken sollte, »nett bei Ihnen.«
Bestürzung malte sich auf Schaeffers Zügen ab. »Nun, es schadet wohl nicht, wenn wir rasch mal bei ihr vorbeischauen.«
Isaac zog eine Augenbraue hoch. »Nur wenn Sie ganz sicher sind. Ich möchte mich keinesfalls in Ihre Behandlung einmischen.«
»Das geht schon in Ordnung«, behauptete Schaeffer. »Hier entlang bitte.«
Während Isaac Schaeffer zu Claires Zimmer folgte, spürte er seine ungeheure Aufregung. Nie zuvor hatte er eines der entführten Kinder als Erwachsenen wieder gesehen. Er fragte sich, ob sie ihn wiedererkennen würde. Falls nicht, würde er schon Wege finden, sie dazu zu zwingen.
Schaeffer geleitete Isaac in einen hell erleuchteten Raum. Natürlich erkannte er sie sofort. Die gleichen glänzenden Goldlocken wie einst. Die blauen Augen. Weit aufgerissen. Vor Angst. Keine Frage, sie wusste ganz genau, wer er war.
Diesmal konnte Isaac das Grinsen nicht unterdrücken. »Hallo, Claire.«
16.
Alec war nicht einverstanden, dass Erin mitkam.
Ob Roland Garth der Entführer von Claire Baker war oder nicht – als die Polizei das Mädchen fand, war es in seinem Haus. Während seiner fünfzehn Jahre beim FBI hatte Alec zu viele Menschen zerbrechen sehen, wenn sie mit dem Täter konfrontiert wurden. Und obschon Erin bemerkenswert gefasst zu sein schien, war ihre Schwester nun mal ihre Achillesferse.
Sie sollte besser nicht in Garths Nähe kommen.
Er bezweifelte allerdings, dass er sie daran hindern konnte. Erin war keine Frau, die leere Drohungen ausstieß. Irgendwie würde sie Garth zu sehen bekommen, ob mit oder ohne seine Hilfe. Wenn Alec dabei war, konnte er darauf achten, dass die Situation nicht eskalierte. Oder es zumindest versuchen.
Außerdem verschaffte ihm der Flug nach Kalifornien Gelegenheit, Erin ein weiteres verrücktes Vorhaben auszureden: das geplante Gespräch mit William Neville.
Sie hatten keinerlei Beweise gegen Neville, lediglich Verdachtsmomente. Und da er ein Mann mit Vermögen und Verbindungen war, konnte Erin sich leicht reinreiten. Wenn seine Hände sauber waren, konnte sie eine peinliche politische Verwicklung heraufbeschwören. Und wenn er doch Dreck am Stecken hatte? Dann wurde die Lage noch komplizierter. Alec bezweifelte, dass Erin irgendwelche Informationen aus dem General herausholen konnte. Stattdessen würde sie zur Zielscheibe werden und jede Chance zunichte machen, Cody Sanders aufzuspüren.
Deshalb war Alec letztlich doch erleichtert, als Erin fünf Minuten vor Boarding-Schluss auftauchte. Sie schleppte eine Reisetasche und wirkte gehetzt. Das kurze dunkle Haar war windzerzaust, die Wangen vom Laufen gerötet. Mit einem Nicken begrüßte sie Alec, vertiefte sich dann jedoch in ein Gespräch mit einem großen schlaksigen Mann, der schon seit geraumer Zeit in der Nähe des Flugsteigs wartete.
Alec konnte nicht hören, worüber sie sprachen, doch der Mann wirkte sichtlich verärgert. Erin schüttelte wiederholt den Kopf und streckte ihre Hand aus. Mit sichtbarem Widerwillen übergab der Mann einen großen Umschlag, dann warf er Alec einen vernichtenden Blick zu, während Erin eilig durchs Gate schritt.
»Hab schon geglaubt, Sie schaffen's nicht«, sagte Alec zur Begrüßung.
»Enttäuscht?«
»Aber
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