Die Dunkle Erinnerung
gefragt.«
Das konnte so nicht stimmen. Claire fragte nie nach ihrer Schwester. »Sie meinen, sie wollte Marta Lopez sehen.«
»Nein, sie sagte immer wieder, sie müsse mit Erin sprechen.« Er klang verärgert, als empfände er ihre Fragen als Zumutung. »Das sind doch Sie, oder?«
»Was hat sie noch gesagt?«
»Hören Sie, Miss Baker, Claire schläft jetzt. Endlich. Wenn Sie morgen Früh kommen, können Sie ja selber mit ihr reden. Außerdem ist dann auch Dr. Schaeffer da, der Ihnen bestimmt mehr sagen kann als ich.«
»Was hat sie noch gesagt?« Erin hörte die Angst in ihrer eigenen Stimme.
Auch der Arzt musste es gehört haben. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es war lauter Unsinn.«
»Erzählen Sie.«
Der Mann seufzte, er klang müde und verärgert. Während der Nachtschicht kam es wahrscheinlich nicht allzu häufig vor, dass er sich mit Verwandten von Patienten herumschlagen musste. »Irgendwas über Eis und Zaubertricks. Sie hat immer wieder gesagt: ›Sagt Erin, der Magic Man ist da.‹«
Erin spürte, wie ein eisiger Ring ihr Herz umschloss. »Ich komme sofort!«
»Nein, ich sagte Ihnen doch …«
»Hören Sie gut zu, Doktor. Lassen Sie niemanden in ihr Zimmer, bevor ich komme.«
»Aber …«
»Niemanden. Verstanden?«
Neuerlicher Seufzer. »Ja.« Es mochte ihm nicht gefallen, von Erin Befehle entgegenzunehmen, doch angesichts der Summe, die sie für Claires Unterbringung zahlte, würde er wenigstens so tun, als gehorche er ihren Anordnungen.
»Ich bin in spätestens einer Stunde da«, sagte Erin und überlegte, wie sie den Mann dazu bewegen konnte, sie ernst zu nehmen. »Ach ja – wie heißen Sie?«
»Temple.«
»Dr. Temple, wenn Claire etwas geschieht, bevor ich da bin, mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich. Und glauben Sie mir, eine Klage wegen ärztlicher Fehlbehandlung fällt mir nicht schwerer als ein Spaziergang im Park.«
Erin schaffte die Strecke in der Rekordzeit von etwas mehr als fünfundvierzig Minuten. Zum Glück sah sie kein einziges Blaulicht; es wäre ein Leichtes gewesen, sie nach Fredericksburg zu verfolgen.
Niemand würde sich zwischen sie und ihre Schwester stellen! Erin war bereits auf dem Weg zu Claires Zimmer, als ein verärgerter Dr. Temple ihr den Weg vertrat.
»Miss Baker, das ist lächerlich! Die Besuchszeit ist längst vorbei, und ich habe Ihnen doch gesagt, dass Ihre Schwester schläft.«
»Gehen Sie mir aus dem Weg!«
Irgendetwas in Erins Miene jagte dem Arzt Angst ein, denn er trat beiseite. Aber er folgte ihr und winkte eine Pflegerin zur Unterstützung herbei.
Im Zimmer trat Erin an Claires Bett und fühlte ihren Puls. Sie schlief unruhig, aber ihr war nichts geschehen, und Erin atmete zum ersten Mal, seit sie den Hörer aufgelegt hatte, wieder einigermaßen ruhig.
»Wer hat sie gestern noch besucht, nachdem wir fort waren?«, wollte sie wissen, ohne den Blick von Claire zu wenden.
»Das weiß ich nicht.«
»Dann finden Sie's heraus!«, fuhr sie ihn an.
Temple nickte der Pflegerin zu, die missmutig aus dem Zimmer eilte. Offenbar gefiel ihr nicht, wie er mit der unberechenbaren Miss Baker umging. Vermutlich hätte sie die Angelegenheit gern selber in die Hand genommen.
»Was ist denn?«, erkundigte sich der Arzt.
Erin ignorierte die Frage und strich eine blonde Locke von Claires Wange. Sie seufzte im Schlaf. Erin beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. Sie hatte die Dinge aufgewühlt, sie hatte den Magician aus der Versenkung geholt. Wenn Claire deswegen etwas zustieß, würde sie es sich nie verzeihen.
Die Pflegerin kam mit dem Besuchsbuch zurück. »Die letzten Besucher von Claire waren Erin Baker, Janie Baker und Marta Lopez.«
Erin fuhr zu ihr herum. »Sind Sie sicher?«
»Wollen Sie selbst nachsehen?«, fragte die Pflegerin.
»Könnte es einen Besucher gegeben haben, der sich nicht eingetragen hat?«
Die Frau wurde ungehalten. »Wir achten hier sehr genau auf die Sicherheit unserer Patienten, Miss Baker.«
Erin seufzte. »Natürlich.« Sie wusste, dass die Schwester Recht hatte. Eine so große Klinik konnte sich keine Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen leisten. Also musste der Magic Man in der Maske eines Krankenhausangestellten Zugang erlangt haben – als Pfleger, Techniker, vielleicht sogar als Arzt. Sie hätte an seiner Stelle das Gleiche getan.
Erin wandte sich wieder an Dr. Temple. »Ich muss sie wecken.«
»Warum denn, um Himmels willen? Sie braucht ihren Schlaf!«
»Claire muss mit mir
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