Die Dunkle Erinnerung
reden.« Erin widerstand der Versuchung, diesen Kerl gründlich durchzuschütteln. Wahrscheinlich überlegte er schon, ob er ihr nicht eine Beruhigungsspritze verpassen sollte. »Wecken Sie sie auf!«
»Ich bin nicht verantwortlich für …«
»Ich übernehme die volle Verantwortung und unterschreibe Ihnen, was Sie wollen. Aber wenn Sie meine Schwester jetzt nicht wecken, rufe ich einen Krankenwagen und schaffe sie schlafend hier raus. Und dann dürfen Sie Dr. Schaeffer erklären, auf welche Weise Sie einen seiner kostbaren Patienten verloren haben!«
Einen Augenblick lang glaubte Erin, Temple würde sich immer noch sträuben. Seine Miene drückte es deutlich genug aus. Schließlich aber kam er, wenn auch mit sichtlicher Abneigung, ihrem Wunsch nach und gab Claire eine Weckspritze.
»Jetzt lassen Sie uns allein«, sagte Erin – ein Befehl, dem Dr. Temple sich nur zu gern fügte.
Claire wachte langsam auf und blinzelte, dann wurde ihr Blick klarer. »Erin?«
»Ja, ich bin's.« Erin drückte ihre Hand. »Jetzt bin ich da.«
Claire lächelte und war für einen Moment das süße, siebenjährige Kind, das Erin vor so vielen Jahren verloren hatte. »Du bist gekommen …«
»Du musstest mich nur darum bitten.« Und das stimmte. Claire hätte immer nur bitten müssen, und Erin hätte alles für sie, für ihre kleine Schwester, getan. Als ihr das klar wurde, spürte sie einen Kloß in der Kehle, und Tränen brannten in ihren Augen.
»Er war hier«, sagte Claire, die Stimme immer noch heiser vom Schlaf.
»Der Magic Man?«
Claire nickte. »Er ist in mein Zimmer gekommen und hat gesagt, dass er mich beobachtet. Dich auch. Ich habe es den Ärzten gesagt, aber keiner wollte mir glauben.«
»Ich glaube dir.«
»Was sollen wir tun …?«
Erins Gedanken überschlugen sich. Claire durfte nicht hier bleiben, doch nach Hause konnte Erin sie auch nicht bringen. Zur Polizei oder zur CIA konnte sie ebenso wenig. Doch sie hatte eine Idee, wo sie vielleicht Unterstützung fand. »Zuerst mal müssen wir hier raus. Dann bringe ich dich an einen sicheren Ort.«
Wieder nickte Claire. »Ich hab gewusst, dass du weißt, was zu tun ist.«
»Komm.« Erin half ihrer Schwester hoch, dann reichte sie ihr ein Glas Wasser.
Als sie sich umdrehte, hielt Claire sie am Arm zurück. »Lass mich nicht allein!«
Wieder nahm Erin die Hand der Schwester. »Ohne dich gehe ich nirgendwohin. Ich wollte nur deine Kleider holen.«
Widerwillig ließ Claire los. Ihre Blicke folgten Erin, die zum Schrank ging und das Kleid herausholte, das Claire am Sonntag getragen hatte. Erin half ihr beim Anziehen. Als Claire ihren Pullover überstreifte, kam der Arzt zurück.
»Was machen Sie denn da?«, wollte er wissen.
»Ich nehme meine Schwester mit.«
»Aber Sie haben gesagt, wenn ich sie wecke …«
Erin hatte beinahe Mitleid mit dem Mann. Er war noch jung und hatte keine Ahnung, mit wem er es hier zu tun hatte. »Hören Sie, Dr. Temple, sie kommt ja zurück. Wir wollen nur …« Wenn sie verriet, dass Claire in großer Gefahr schwebte, würde er darauf bestehen, dass die Polizei verständigt würde – die natürlich keine Ahnung davon hatte, wie man Claire vor Verbrechern wie dem Magician beschützen sollte. »Wir wollen nur einen kleinen Ausflug unternehmen.«
»Mitten in der Nacht?«
Ungläubig sah der Arzt zu, wie Erin Claire beim Aufstehen half und sie in den Korridor führte. Sie gingen untergehakt und kamen nur langsam voran. Erin musterte alle, die zu dieser späten Stunde noch auf waren. Sie rechnete damit, jeden Moment den Mann mit den magischen Händen zu sehen. Sie sah ihn zwar nicht, bezweifelte aber nicht, dass er sie beobachtete, dass er sie beide beim Verlassen der Klinik im Auge behielt …
Doch zu dieser nächtlichen Stunde konnte er ihr nicht folgen, ohne entdeckt zu werden – und dafür war Erin dankbar. Sie würde Claire an einen sicheren Ort bringen. Und dann würde sie diesen Kerl finden.
Erin fuhr eine Viertelstunde, dann hielt sie am, Rande von Fredericksburg an einem 7-Eleven, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Claire war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Das blinde Vertrauen der Schwester war für Erin neu und unerwartet, sie wusste nicht recht, wie sie es einschätzen sollte. Doch im Augenblick hatte sie für solche Gedanken keine Zeit. Claire musste so schnell wie möglich an einen sicheren Ort.
Erin stieg aus und ging zu einer Telefonzelle. Einen Anruf per Handy wollte sie nicht riskieren, deshalb musste
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