Die dunkle Göttin
sein Windrenner-Bruder eine starke Persönlichkeit hatte, aber bis zu diesem Augenblick hatte er niemals ganz begriffen, wie mächtig er wirklich war. Walasfro hätte ohne weiteres Leithengst werden können, hätte er sich nicht dazu entschieden, sich mit Kelthys zu verbrüdern. Und mit eben diesem Herdensinn tastete er die vernarbten Überlebenden ab.
Eine der Stuten hob ihren Kopf und wieherte leise. Walasfro schüttelte sich fast wie ein Mensch, als er versuchte, sich von seiner Verblüffung zu erholen. Es beeindruckte natürlich weit mehr, wenn sich ein Windrenner schüttelte, aber selbst diese äußere Geste verblasste im Vergleich zu der inneren Überraschung, die Kelthys mit ihm teilte.
Er hörte die ebenfalls verblüfften Laute hinter sich, als die Hengste vom Bärenfluss etwas später begriffen, was Walasfro
sofort bemerkt hatte. Bahzells und Jahlahans Nachricht hatte sie darauf vorbereitet, dass nach den Aussagen des Boten von Lord Edinghas alle Überlebenden der Warmen Quellen mit dem Tod rangen. Doch von der tödlichen Erkrankung, die Alfar Axtschneide ihnen gemeldet hatte, war an diesen Windrennern nichts zu bemerken. Die Narben verrieten, dass sie dem Tod entronnen waren, das vielleicht, mehr aber nicht. Selbst der Schatten des Grauens, das sie erleben mussten, schien irgendwie gemildert. Er war zwar nicht überwunden oder ausgelöscht, das nicht, aber er wirkte doch
verwandelt: zu einer Erinnerung, die einem zwar Angst einflößen, aber den unzähmbaren Mut, den jeder Windrenner von Geburt an sein Eigen nannte, nicht mehr lähmen oder gar zerschmettern konnte.
Wie?
Walasfro stellte Kelthys diese Frage. Es schien fast, als könnte der Hengst keinen vielschichtigeren Gedanken fassen, und dennoch enthielt dieses Wort alle Schattierungen seiner Verblüffung, seiner Freude, seiner Dankbarkeit und seines Jubels.
»Ich weiß es nicht.« Kelthys Stimme klang fast genauso verwundert, wie Walasfros Gedanken sich anfühlten. »Ich
«
Er verstummte und drehte den Kopf in die Richtung von Walasfros Blick, als der Hengst erneut überrascht reagierte. Zwei weitere Windrenner kamen langsam aus dem Stall. Der eine war selbst für eine ausgewachsene Stute ungewöhnlich groß. Sie war brutaler zugerichtet und vernarbt als alle anderen, die Kelthys bisher gesehen hatte. Dennoch war sie die jüngere, das merkte er, als Walasfros Herdensinn sie streifte. Sie hatte ein Auge und ein Ohr verloren und trotz ihres dicken, kastanienbraunen Winterfells sah man große, weiße Narben, die von fürchterlichen Verletzungen kündeten. Offenbar versuchte sie noch immer, sich an ihre fast Blindheit zu gewöhnen, trug ihren übel zugerichteten Schädel aber mit demselben majestätischen Stolz, der auch in ihrem hohen Gang zu erkennen war.
Walasfros Herdensinn erkannte in dem anderen Windrenner neben ihr die älteste überlebende Stute der Herde von den Warmen Quellen. Dabei war sie nicht einmal sonderlich alt. Windrenner lebten im Unterschied zu Pferden meist etwa sechzig Jahre, dafür jedoch reiften sie etwas langsamer. Diese Stute hier konnte höchstens neunzehn Jahre alt sein.
Das unterstrich, wie vollkommen diese Herde vernichtet worden war. Der Gedanke streifte Kelthys jedoch fast beiläufig, denn etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit. Er fühlte das ungläubige Staunen von Walasfro und den Hengsten vom Bärenfluss, als sie ebenfalls den vollkommen erschöpften Hradani sahen, der zwischen den beiden Windrennern taumelte. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, zwang sich jedoch dazu, sich aufzurichten, als er sie begrüßte. Kelthys fiel noch etwas anderes auf: Er sah, wie dieser Hradani seinen Arm über den Rücken des halb blinden, schrecklich zugerichteten Stutfohlens geschlungen hatte, das beschützend neben ihm ging und ihn stützte.
»Ich bin wirklich froh, Euch zu sehen, Sir Kelthys.« Bahzell Bahnaksons Stimme war nur mehr ein schwacher Abklatsch seines sonst so tiefen, mächtigen Basses.
Ich kann einfach nicht glauben, dass er nicht auf uns gewartet hat!
»Hm. Ich versuche immer noch zu begreifen, dass er und die anderen es geschafft haben, vor uns hier zu sein!« Kelthys rieb mit kräftigen, kreisförmigen Bewegungen die Bürste sorgfältig gegen den Strich von Walasfros Fell.
Die Stallknechte kümmerten sich neben ihm in der gleichen Weise um die Hengste vom Bärenfluss, und die Haare des Winterfells, das die Windrenner allmählich ablegten, wehten überall um sie herum. Es war
Weitere Kostenlose Bücher