Die dunkle Göttin
Kriegsbräuten, wie man es sich nur denken konnte. Und das nicht nur, bis sie nach Kalatha gekommen war. Sie war schüchtern, wenn auch nicht scheu. Diesen Unterschied hatte Leeana erst nach zwei Tagen begriffen. Und sie hielt sich stets zurück, es sei denn es ging um ihre Kunst oder ihr Geschäft. Dabei war sie klein und zierlich, und Leeana bezweifelte, dass sie auch nur ein einziges Mal an den morgendlichen Leibesübungen teilgenommen hatte, seit sie die erforderliche Kampfausbildung und die üblichen Turnstunden hinter sich gebracht hatte. Bei den Feinarbeiten trug sie eine Brille mit einem Metallrahmen, und ihr Lieblingskleid war ein von Brandflecken
übersäter Rock mit fantasievollen, aufgestickten Schmetterlingen in Blau, Rot und Gold. Abgesehen von ihrer offenkundigen Liebe zu Glas schien sie keine besonderen Leidenschaften zu hegen. Sobald sie jedoch das Blasrohr an die Lippen setzte, wirkte sie beinahe geistesabwesend. Auf den ersten Blick machte sie den Eindruck einer Person, die sich am liebsten in ein Mauseloch verkroch und sich jede Nacht mit einem Buch im Bett zusammenrollte.
Dennoch war Theretha eine der beliebtesten Bürgerinnen von Kalatha. Sie schien wirklich jeden zu kennen, und alle, die sie kannten, mochten sie. Sie war immer hilfsbereit, bescheiden und fröhlich, und etwas an ihr löste bei fast jeder anderen Person ein Bedürfnis zu beschützen aus. Es war fast wie eine Tarnfarbe oder ein natürlicher Verteidigungsmechanismus, obwohl Theretha es ohne Zweifel nicht absichtlich einsetzte. Sie war einfach so.
Selbst Leeana, mit Sicherheit die jüngste Kriegsbraut in der Stadt, und darüber hinaus auch noch mindestens zehn Jahre jünger als Theretha, fühlte diesen Drang, die Ältere zu beschützen. Dadurch war Theretha so etwas wie die »Kleine Schwester« für sie alle.
Wenn es jedoch ums Geschäft ging, strahlte sie gar nichts Kindliches mehr aus. Außerdem konnte man ihr nur schwer etwas recht machen. Sie hatte bereits drei Hilfskräfte verschlissen, bis Leeana in ihren Laden gekommen war. Keine von ihnen hatte sie zufrieden gestellt. Was Leeanas Glück gewesen war. Denn sie hatte es geschafft. Schon nach dem ersten Nachmittag hatte Theretha zugestimmt, sie nach Stückzahl zu bezahlen, nicht nach Stunden, trotz der Furcht der Glasbläserin, übermäßige Hast könnte ihren kostbaren Stücken schaden. Doch das war nicht eingetroffen. Leeana hatte festgestellt, dass sie in derselben Zeit die Hälfte mehr verdienen konnte, wenn sie sich konzentrierte. Oder aber genauso viel. Und dass sie trotzdem rechtzeitig zu ihrem Kurs mit Hundert Ravlahn kam.
Was keineswegs unbedeutend ist, dachte Leeana, als die Rathausuhr die Stunde schlug.
»Ich muss mich beeilen, Theretha!«, rief sie. »Ich komme zu spät zu Hundert Ravlahn. Kann ich mein Geld morgen abholen? Ich muss den Stallmeister für nächste Woche bezahlen.«
»Aber natürlich«, versicherte ihr Theretha. »Und glaub mir, du solltest lieber nicht zu spät zu Hundert Ravlahn kommen.« Sie verdrehte die Augen. »Also lauf!«
»Bin schon unterwegs!« Leeana fegte aus dem Geschäft.
»Leeana!«, rief ihr jemand nach, als sie über den Bürgersteig auf der Hauptstraße der Stadt raste. »Wir gehen nach dem Essen alle ins Grüne Gänschen und
«
»Keine Zeit, Besthyra!«, warf Leeana über die Schulter zurück, ohne ihre Geschwindigkeit zu verringern. »Tut mir Leid! Außerdem muss ich nach dem Essen wieder die Ställe ausmisten!« Sie verzog das Gesicht, winkte und verschwand um eine Ecke.
Sie rannte weiter, und dabei wurde ihr bewusst, welche Veränderungen sich in diesen letzten Wochen in ihrem Leben vollzogen hatten. Garlahna war in den ersten paar Tagen ihr Rettungsanker gewesen, und Leeana hatte sich fast verzweifelt an sie geklammert
wenn sie nicht ins Bett gefallen war und versucht hatte, etwas von diesem Mysterium nachzuholen, das man »Schlaf« nannte. Zu ihrer eigenen Überraschung gewöhnte sie sich jedoch bemerkenswert schnell an ihr neues Leben. Vielleicht war es ja auch gar nicht so bemerkenswert. Schließlich hatte sie nie die Chance gehabt, eine andere Kriegsjungfer dabei zu beobachten, wie diese mit den Veränderungen zurechtkam. Doch Hundert Erlis und ihre Stellvertreterinnen, zum Beispiel Hundert Ravlahn, hatten wohl über die Jahre Dutzende oder Hunderte von Kriegsbräuten und Kriegsjungfern durch denselben Prozess gehetzt. Ihre selbstsichere, begabte Forschheit wirkte ungeheuer beruhigend, trotz ihrer hohen
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