Die dunkle Macht des Mondes
fragte sie.
“Ich werde mich bemühen, dir unsere Zusammengehörigkeit nicht zu lästig werden zu lassen”, sagte er. Er wendete sich ab, um zu gehen.
“Dorian …” Gwen durchschritt das halbe Zimmer, blieb aber stehen, ehe sie ihn erreichte.
Gib mir einen Grund, aufzuhören, dich zu hassen. Lass mich frei. Lass mich wählen, an deiner Seite zu bleiben.
Aber sie würde nicht betteln, und er hatte ihr nichts zu sagen. Er verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Gwen blieb stehen, wo sie war. Sie konnte sich nicht bewegen oder denken. Sie suchte verzweifelt nach einem Einfall oder einem Bild, dass ihr in diesem Meer aus Verzweiflung Halt geben konnte. Sie fand Eamon Murphy.
Du hast nie gewusst, dass es zu dem hier kommen würde, oder, Dad? Wenn du es auch nur geahnt hättest, hättest du deine Notizen verbrannt und auf einem vergessenen Friedhof verscharrt.
Vielleicht hätte er genau das getan. Aber wenn er gewusst hätte, was aus ihr werden würde, hätte er sich nicht voll Schrecken abgewandt. Er hätte sie in den Armen gehalten, sie sich ausweinen lassen, ihr einen kleinen Stüber unters Kinn gegeben und ihr gesagt, dass alles in Ordnung käme.
“Verfolge deine Ziele, meine Schöne”, hätte er gesagt. “Benutz die Stärke, mit der du geboren worden bist. Lass dich von nichts aufhalten, auch wenn das Leben dir ein paar faule Kartoffeln zuwirft.”
Gwen legte eine Hand auf ihren Mund. Sie konnte nicht weinen. Diese Fähigkeit schien dort zu liegen, wo auch ihre Fähigkeit, sich bei Tageslicht frei zu bewegen, geblieben war. Aber sie konnte immer noch tief in sich gehen und etwas finden, für das es sich lohnte weiterzumachen. Etwas, das wichtig war.
Sie stand auf, rückte ihre Kleidung zurecht, spritzte sich über dem Waschbecken im Badezimmer Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit einem Kamm durch ihre Haare. An ihrer Tür standen keine Wachen, und auch auf dem Korridor war niemand zu sehen. Sie blieb an der Tür neben ihrer stehen. Sie war einen Spaltbreit offen, und drinnen konnte sie Stimmen hören – Dorians und Angelas.
“Ich weiß, dass Sammael hier eine neue Aufgabe für dich finden kann”, sagte Angela gerade. “Es gibt keinen Grund, warum du uns verlassen solltest.”
“Es gibt jeden Grund, und Sammael weiß das”, sagte Dorian. “Tegon hat mir selber gesagt, dass Kyril vorhat, uns umzubringen. Kyril kann es sich nicht leisten, irgendjemanden glauben zu lassen, dass einer seiner Leutnants sich ihm widersetzt hat und damit davongekommen ist. Er wird uns schonungslos jagen, und es ist sehr gut möglich, dass er dabei auch Pax entdeckt.”
“Keine der Splittergruppen ahnt auch nur etwas von unserer Existenz”, sagte Angela. “Du ebenfalls nicht, ehe ich an dich herangetreten bin.”
“Ja, aber …”
Stille. Gwen spürte eine plötzliche, unangebrachte Welle der Lust. Sie öffnete die Tür ein kleines Stück weiter.
Angela küsste Dorian. Und er ließ es zu.
15. KAPITEL
S chockiert und nervös kehrte Gwen in ihr Zimmer zurück. In einer merkwürdigen Art der Umkehrung sah sie Angela durch Dorians Augen: ihre blonde Schönheit, ihre Kompetenz und dass sie sich offensichtlich zu ihm hingezogen fühlte. Angela war, im Gegensatz zu Gwen, nicht von Dorian abhängig. Sie war nicht sein Mündel oder sein Sklave, sie war ihm gleichgestellt, und sie war in Vampirdingen ebenso erfahren wie er.
Und Gwen hatte
ihn
gefragt, ob er eifersüchtig auf
Jim
war.
Sie ließ sich auf den Rand des Bettes sinken und berührte ihre Lippen, die sich anfühlten, als wären sie ein fremdes Anhängsel. Eine Flut aus Erinnerungen brachte sie zum Kribbeln.
Den ersten Kuss hatte sie bekommen, als sie Dorian mit in ihr Hotel genommen hatte, damit er sich von den Wunden erholen konnte, die er sich während der Schlacht zwischen den Splittergruppen zugezogen hatte. In dieser Nacht war ihr so viel wie ein Traum vorgekommen, aber daran erinnerte sie sich. Er hatte sie geküsst, direkt nachdem er ihr gesagt hatte, dass er Kyril umbringen würde, um sie zu beschützen. Nachdem er ihr gesagt hatte, dass er sie sehr gern hatte.
Eine Hitzewelle durchfuhr sie. Sie legte sich auf das Bett zurück und schloss die Augen. Der Kuss war schöner gewesen als alles, was sie sich je hatte vorstellen können, und von Mitchs so verschieden wie das Brüllen eines Löwen vom Miauen eines Kätzchens.
Und da war noch mehr gewesen, nach dem Kuss, viel mehr, auch wenn ihre Erinnerung daran verschwommen war und so unmöglich
Weitere Kostenlose Bücher