Die dunkle Muse
ihr gehört die Zukunft. Dies ist Julius Bentheim, der Benjamin unserer Salon-Abende;
und dies ist seine bezaubernde Begleitung, Fräulein Filine Sternberg, welche kennenzulernen
ich erst heute das Vergnügen hatte.«
»Angenehm,
sehr erfreut.«
»Und Sie
müssen zweifelsfrei das grundgütige Fräulein Lembke sein, von der mir Julius schon
des Öfteren erzählt hat. Man hört nur Gutes über Sie. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.
Preußen braucht prinzipientreue Mägde wie Sie.«
Bentheim
unterdrückte ein Lachen, als Fontane ihm heimlich zuzwinkerte. Dass der Anstandsdame
nur mit Schmeicheleien beizukommen war, hatte der hugenottische Poet mit klarem
Blick erkannt. Sie tauschten höfliche Floskeln aus, plauderten über Nichtigkeiten
und stießen allmählich in philosophischere Gefilde vor. Als sich auch noch die Dame
des Hauses zu ihnen gesellte, befand sich die Gruppe bereits in einer angeregten
Diskussion über religiöse Schuld und Sühne. In der Vossischen Zeitung war ein kurzer
Bericht über die bestialische Bluttat an der Dirne Lene Kulm erschienen, und es
hatte sich herausgestellt, dass Bentheims tiefere Einsicht in den Mordfall Fragen
von essentieller Bedeutung aufwarf. Der Umstand, dass ein gebildeter Mann wie Botho
Goltz zu einem derart abscheulichen Verbrechen fähig war, übte auf die Gesprächsteilnehmer
eine Faszination aus, der sich die Anwesenden nur schwer entziehen konnten.
Der Mann,
den Fontane als Goedsche vorgestellt hatte, räusperte sich vernehmlich. Er war ebenfalls
Schriftsteller, wenn auch auf dem eher seichteren Gebiet der trivialen Abenteuerliteratur.
Unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlichte er historische Sensations-
und Tendenzromane in der Tradition von Eugène Sue und Alexandre Dumas.
»Ich bin
der Meinung«, ereiferte er sich, »dass das Vorhandensein menschlichen Intellekts
kein zwingender Grund ist, sich dem Diktat von Ethik und Moral zu unterwerfen. Es
ist doch primär die Religion, die uns vorschreibt, was wir zu tun oder zu lassen
haben, und wie Karl Marx sagt, ist Religion der Seufzer der bedrängten Kreatur.
Wenn also ein Philosoph wie dieser Professor Goltz zu der Erkenntnis kommt, die
Religion besitze für ihn keine Daseinsberechtigung, so ist es sein gutes Recht,
die passenden Schlüsse daraus zu ziehen.«
»Und die
wären?«, wollte Fanny Lewald wissen.
»Nun, Sie
als Jüdin werden mir natürlich widersprechen, aber es ist nicht von der Hand zu
weisen, dass sich in der Thora zahlreiche Beweise für die monströsesten Gewaltexzesse
finden lassen. Nehmen wir noch das Neue Testament hinzu, um auch die Christenheit
mit einzuschließen, dann gibt es noch mehr Verherrlichungen menschlicher wie göttlicher
Tyrannei. Das Faustrecht ist in diesen Büchern vorherrschend. Der Stärkere setzt
sich durch. Ironischerweise sind die Heiligen Schriften auf ihre Art dem Darwinismus
näher, als ihnen lieb ist.«
»Ein Beispiel
gefällig«, forderte Frau Lembke missmutig. Ihr, die in einem Pastorenhaushalt diente,
behagte die Entwicklung des Gesprächs ganz und gar nicht.
Mit gewichtiger
Miene stellte sich Retcliffe in Positur. »Denken Sie nur an den Auszug aus Ägypten.
Gott verlangt von Moses, den Pharao zu bitten, das Volk der Israeliten ziehen zu
lassen. Für mich als Schriftsteller wäre das an sich eine geniale Ausgangslage:
Es gibt einen exotischen Schauplatz, historisch verbürgte Tatsachen und biblische
Plagen, die man mittels durchdachtester Theatereffekte auf die Bühne bringen könnte.
Doch was macht die Bibel aus solch dankbarer Vorlage? Ein schäbiges Schmierenstück.«
»Ich muss
doch sehr bitten, Sir John«, fiel ihm Fontane gutmütig ins Wort und legte ihm die
Hand auf den Arm, »achten Sie bei Ihren gewagten Thesen zumindest ein wenig auf
die Wortwahl. Es sind Damen anwesend.«
Retcliffe
deutete eine leichte Verbeugung an und murmelte eine halbherzige Entschuldigung,
bevor er mit seinen Ausführungen fortfuhr: »Wie gesagt, der Stoff für eine Tragödie
wäre gegeben. Mit der Figur des Moses fehlt es auch nicht an einem tragischen Helden.
Denn sein Traum, aus der Sklaverei zu entkommen und ins Land seiner Vorväter zu
ziehen, erfüllt sich nicht. Es wird ihm lediglich vergönnt sein, auf dem Berg Nebo
von seinem Sterbebett aus einen letzten Blick hinüber in die Heimat zu werfen. Welch
ergreifende Szene! Außerdem gibt es einen Antagonisten, nämlich den Pharao, den
man als durchtriebenen und bösen Widersacher präsentieren könnte. Aber wenn man
dem
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