Die dunkle Muse
ältestes von neun Kindern in einem Kaufmannshaushalt
aufgewachsen und hatte es dem konservativen Vater abgetrotzt, allein eine Wohnung
zu beziehen. Auch der Zwangsverheiratung mit einem ungeliebten Mann hatte sie sich
erfolgreich widersetzt und war ihrer Berufung gefolgt, Schriftstellerin zu werden.
In mehreren erfolgreichen Romanen hatte sie die Konventionen und Traditionen ihrer
Zeit urteilssicher unter die Lupe genommen.
»Ich bin
anderer Meinung«, erklärte sie energisch. »Im Übrigen möchte ich klarstellen, dass
ich zwar Tochter jüdischer Eltern bin, aber christlich getauft wurde. Dies nur nebenbei … Nun zu Ihrer Vorstellung, dass
unsere Moral nicht der Religion zu verdanken ist. Hier möchte ich ansetzen, denn
im Gegenzug ist es eben nicht so, dass der Atheismus keine Moral kennt.«
»Atheismus
und Moral? Ich bitte Sie!«, fuhr Hedwig Lembke dazwischen.
»Doch, doch,
lassen Sie mich erklären. Unsere Moral verdanken wir keineswegs der Religion. Jeder
von uns entscheidet für sich selbst, was als gut oder als schlecht anzusehen ist.
Diese moralische Intuition ist eine Art Kompass, der anscheinend zu unserem biologischen
Zubehör gehört. Die Stellen, die wir in der Bibel gut und nachahmenswert finden,
lassen sich um ihrer ethischen Weisheit willen achten. Der Atheist braucht kein
höheres Wesen. Er ist intelligent genug, um selber einen Kanon an moralischen Werten
zu erstellen.«
»Das mag
für Sie richtig sein, die Sie in gediegenem Umfeld leben«, warf die Gouvernante
ein. »Sie haben Kleidung, Nahrung, ein Dach über dem Kopf. Aber Sie nehmen den Geknechteten
und Verarmten den Glauben und damit alles, was sie noch besitzen.«
»Den Glauben
woran?«, lachte Retcliffe hämisch auf. »An Gottes Barmherzigkeit?«
Mit funkelnden
Augen sah Frau Lembke den Dichter an. Theodor Fontane war darum bemüht, die Situation
zu entspannen. Religion war ein heißes Eisen und wieder einmal sah er sich in seiner
Entscheidung bestärkt, dieses Thema nicht in einem seiner Werke behandelt zu haben.
»Vielleicht
lässt sich ein Kompromiss finden«, schlug er vor.
Filine,
die der Diskussion bisher stumm gefolgt war, meldete sich erstmals zu Wort: »Rein
mathematisch gesehen ist es von Vorteil, die Existenz Gottes anzunehmen.«
Die Herren
lächelten anerkennend. Zu den Pflichten einer gebildeten Bürgersfrau gehörten die
Handarbeit, leichtere Hausarbeiten, das Klavierspiel und die Lektüre verständlich
geschriebener Romane. Es machte offenbar Eindruck, dass diese junge Dame philosophischen
Gedanken nachhing.
»Nur zu,
Fräulein Sternberg, ich bitte Sie um Aufklärung.«
»Ob Gott
existiert oder nicht, konnten selbst so große Philosophen und Kirchentheoretiker
wie Augustinus, Thomas von Aquin oder Descartes nicht schlüssig beweisen. Es gilt
also abzuwägen, für welche Variante man sich entscheidet. Für die Existenz Gottes?
Oder für seine Nicht-Existenz? Wähle ich den atheistischen Weg und sterbe, kann
mir Übles widerfahren: Es gibt tatsächlich keinen Gott und ich gehe ohne Bewusstsein
in die Ewigkeit ein. Oder es gibt einen Gott und ich werde für meine Blasphemien
bestraft und lande in der Hölle.«
»Das wäre
die erste Variante. Was aber, wenn ich gläubig bin?«
»Wenn ich
fromm und demütig mein Leben gestalte und schließlich sterbe, stellt sich mir dieselbe
Situation: Falls es keinen Gott gibt, verschwinde ich ebenfalls im Dunkel der Geschichte.
Dies macht mir nichts aus, da ich ab diesem Zeitpunkt nichts mehr spüre, auch nicht
mehr denke und ganz allgemein nicht mehr bin. Trete ich aber vor meinen Schöpfer,
falls er denn existiert, wird er mich freundlich und gütig empfangen und zu sich
ins Himmelreich holen, wo mir das ewige Leben winkt. Sie sehen, es gibt vier Varianten,
wovon lediglich eine die mit Abstand schlechteste ist. Wenn ich in meinem Glauben
nicht sicher bin, vertraue ich auf die Mathematik, wähle die 75-prozentige Möglichkeit,
entscheide mich bewusst für die Existenz Gottes und wähle ein gottgefälliges Dasein.«
»Wohl gesprochen«,
meinte Fanny Lewald entzückt und Hedwig Lembke ertappte sich dabei, stolz auf die
ihr anvertraute junge Frau zu sein. Für einmal vergaß sie die mittlerweile fortgeschrittene
Stunde und nickte zustimmend, als Filine nach einem Gläschen Sekt greifen wollte.
Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang, teils über Literatur, teils über Bismarcks
ruppige Angriffe gegen die österreichische Monarchie und den Deutschen Bund, und
verabschiedeten sich
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