Die dunkle Muse
genauen Wortlaut des Buches Exodus folgt – was besonders die katholische Kirche
ja stets von einem verlangt –, so ergibt sich ein ganz anderes, ein gänzlich unerwartetes
Bild. Der böse Pharao war nämlich gewillt, der Bitte des Moses zu entsprechen. Er
zeigt sogar Verständnis für das geknechtete Volk und ist der Meinung, seine Zwangsarbeiter
ziehen lassen zu können, zumal die Bauarbeiten ohnehin bald beendet seien. Ende
gut, alles gut, sollte man meinen, wenn da nicht der eitle Geck von einem Herrgott
wäre!«
»Herr Retcliffe!«
»Bitte vielmals
um Verzeihung, meine Damen und Herren. Aber ich nenne nun einmal das Kind beim Namen.
Ich bedinge mir aus, dass Sie dies billigen.«
Julius Bentheim
nahm einen Schluck aus seinem Sektglas und hielt es dem verdutzten Fontane hin,
um es von ihm auffüllen zu lassen, womit er einen weiteren Einwand seitens des Dichters
verhinderte. Den Studenten interessierte der Verlauf des Gesprächs ungemein. Filine
war von ihrem Vater geprägt, auch wenn sie nicht dessen beharrliche Sittenstrenge
übernommen hatte. In vielerlei Hinsicht war sie aufgeschlossen gegenüber den Veränderungen,
die die Gesellschaft durchmachte, und zeigte sich bisweilen auch empfänglich für
wissenschaftlichen Fortschritt. Was das voreheliche Austauschen von Zärtlichkeiten
anbelangte, war sie bis zu einer bestimmten Grenze prinzipientreu. Wenn es ihnen
einmal gelungen war, sich heimlich zu treffen oder Frau Lembke für unbestimmte Zeit
loszuwerden, entwickelte sich stets ein hastiges, flüchtiges Berühren zwischen ihnen.
Julius hatte sie bereits geküsst und durfte hin und wieder ihre Brüste streicheln,
wogegen sie nichts einzuwenden hatte, sofern er sie nicht ansah. In einem schwachen
Moment hatte Filine einmal in seine Hose gegriffen und sein Glied angefasst, jedoch
unverzüglich die Hand zurückgezogen und ihn gebeten, für den Rest der Woche von
ihr Abschied zu nehmen. Der Same der Bibel, der ihr von ihrem Vater eingepflanzt
worden war, hatte halbherzig gekeimt.
Ein Seitenblick
zu Filine genügte Julius, um zu erkennen, dass sie die Ausführungen Retcliffes missbilligte,
aber gespannt die weitere Argumentation verfolgen würde.
»Und wie
ging es weiter?«, fragte Bentheim.
»Der liebe
Gott lässt das Herz des Pharaos verhärten, sodass Wut und Zorn in ihm aufblühen.
Plötzlich verweigert der König den Israeliten die Ausreise. Auch als ihm Moses die
Gefahr der sieben Plagen vor Augen führt, die über das Land hereinbrechen sollen,
reagiert er nicht. Erst als das Reich von einer Katastrophe in die nächste gerät,
erlaubt er den Wegzug der Sklaven. Hier könnte die Geschichte ihr Ende finden, wenn
sich Jahwe nicht in der Rolle der selbstherrlichen Schicksalsmacht gefallen würde.
Erneut vergiftet er das Herz des Königs mit arglistigen Gedanken und lässt ihn eine
Streitmacht aufstellen, um die Flüchtigen zu verfolgen. Dass die ägyptische Armee
in den Fluten des zuvor noch von Moses geteilten Roten Meeres jämmerlich ersäuft,
ist hinlänglich bekannt. Laut Altem Testament ist es also der Wille Gottes, unnötig
Gewalt anzuwenden und friedlich gesinnte Menschen ihres freien Willens zu berauben.
Der Pharao war hierbei nichts weniger als das Opfer in der bemitleidenswerten Inszenierung
eines gefallsüchtigen Stutzers. Zur höheren Ehre Gottes, wie man so schön sagt.
Um für einmal auf Seite der Ägypter Resümee zu ziehen, sieht die Bilanz düster aus.
Das Land und seine Bewohner sind von Pest, Geschwüren und Hagel gequält, die Ernten
durch Heuschrecken und Ungeziefer aufgefressen, alle Erstgeborenen von Mensch und
Vieh gestorben, die Soldaten dezimiert. Der Gott der Israeliten hat sich durchgesetzt.
Sieg auf ganzer Linie. Dass dabei verbrannte Erde zurückblieb, ist ihm einerlei.«
»Ihrer Argumentation
ist eine gewisse Logik nicht abzusprechen, Sir John«, bemerkte Fanny Lewald. »Doch
was hat dies mit dem Fall Kulm zu tun?«
»Vor Beginn
meiner Ausführungen haben wir uns eben noch darüber unterhalten, wie schwer vorstellbar
es sei, dass ein gebildeter Mann wie dieser Professor Goltz zu Gewalt greift. Ich
aber behaupte, dass dies sehr wohl vorstellbar ist und dass diese Idee auch durch
irgendwelche religiösen Ansichten nicht aus der Welt geschafft werden kann. Ein
Atheist wird nicht unbedingt bekehrt, indem man ihm die Bibel zu lesen gibt. Im
Gegenteil, dies bestärkt ihn wohl nur noch in seinem Glauben an den Unglauben.«
Fanny Lewald
legte die Stirn in Falten. Sie war als
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