Die dunkle Muse
einen Gnadenakt die Hand zum Kuss. Er spielte
die Komödie mit, verbeugte sich steif und führte die Hand, die in einem weißen Seidenhandschuh
steckte, bis wenige Zentimeter an seine Lippen. »Ich bin erfreut, Sie wohl und munter
zu sehen«, begrüßte er sie vernehmlich. Leise aber fügte er ein paar schmachtende
Liebesschwüre hinzu.
»Setz dich
zu mir, Julius, die Alte ist weg.«
Um sich
Platz zu verschaffen, nahm er die Zeitschrift, die sie beiseite gelegt hatte, von
der Bank. »›Die Gartenlaube‹«, las er überrascht. »›13. Jahrgang.‹«
»Passend,
nicht?«
»Ist wenigstens
der Inhalt spannender als der Titel?«
Sie nickte
heftig, wobei die blonden Locken ihre Schultern umspielten. Die Ähnlichkeit mit
dem Bild, das man sich gemeinhin von Brentanos Lore Lay machte, war augenfällig.
Bentheim sah es beinah als boshafte Laune der Natur an, dass eine Pastorentochter
ein solch anziehend wirkendes Äußeres besaß.
»Die einzige
Zeitschrift, die mich Papa ohne Bedenken lesen lässt«, erklärte Filine. »Der Publizist
ist zwar liberal-demokratisch, doch das Programm des Blattes ist weitgehend unpolitisch.
Hier, sieh mal, das Motto. Ich will dir einen Auszug vorlesen: ›Ein Blatt für jeden,
der noch Lust hat am Guten und Edlen‹. Irgendwie abgeschmackt, nicht? Trotzdem muss
ich zugeben, dass mir die Mischung aus Reportagen, Fortsetzungsromanen und dem Propagieren
ethischer Werte nicht missfällt.«
»Dann hatte
dein Vater für einmal nichts zu zensieren?«
Sie lachte
auf und strich ihm sanft über den Handrücken. Als sie sich ungefähr einen Monat
lang kannten, hatte Julius sie beim Lesen eines Buchs angetroffen, auf dessen Seiten
bisweilen einzelne Textstellen mit schwarzem Stift überstrichen worden waren. Alle
anstößigen Szenen waren getilgt worden. »Ad usum Delphini«, hatte Pastor Sternberg
sein Vorgehen genannt, indem er die alte Bezeichnung verwendete, die man früher
für die umgeschriebenen Klassikerausgaben des französischen Thronfolgers gebraucht
hatte. In dem Bücherregal, das Sternberg für seine Tochter eingerichtet hatte, fanden
sich lediglich Bände von Klopstock, Lyrik von Angelus Silesius und Novalis sowie
die christlich-konservativen Werke der Droste-Hülshoff. Bentheim hatte sich des
Mädchens erbarmt. Zu jedem neuen Treffen schmuggelte er in den weiten Taschen seines
Ausgehrocks ein anderes Buch ins Haus des Pastors. So kam es, dass Filine in den
Nächten heimlich mit Gaboriaus Ermittler Lecoq auf Mörderjagd ging, an der Seite
von Wagners ›Kindsmörderin‹ tragische Stunden durchlitt und sich vor Ernst Raupachs
›Blutbaronin‹ fürchtete.
Geraume
Zeit saßen sie nebeneinander und genossen es, die laue Luft um sich zu spüren. Dann
brachte Bentheim das Gespräch wieder in Gang, indem er auf ihr vereinbartes Programm
für den frühen Abend anspielte. »Kommt die Lembke mit?«
»Sie muss
wohl.«
»Und weiß
sie, wohin wir wollen?«
»Aber nicht
doch. Wir gehen spazieren, bummeln ein wenig dahin und dorthin, während sie uns
in angemessenem Abstand folgt, und ehe sie sich versieht, sind wir schon bei Fanny
im Haus. Dann muss die Alte gezwungenermaßen eintreten und gute Miene zum bösen
Spiel machen.«
»So einfach
wird es sich abspielen?«
»Ja, mein
Schatz, sei unbesorgt«, meinte sie zuversichtlich. »So einfach wird es sich abspielen.«
Sechstes Kapitel
Die Anstandsdame Hedwig Lembke folgte
den zwei Verliebten in Sichtweite. Mürrisch schritt sie hinter ihnen her, wobei
sie jedoch einen akzeptablen Grad an Freiraum gewährte. Julius und Filine plauderten
ungeniert von privaten Dingen und endlich verstieß der Student auch gegen die Schicklichkeit,
indem er dem jungen Fräulein von seiner Verwicklung in den Mordfall Lene Kulm erzählte.
Als er geendet hatte, hatten sie bereits einen langen Spaziergang hinter sich gebracht
und waren wieder am Anfang der Matthäikirchstraße angekommen.
»Da vorn
ist die Hausnummer 18«, meinte Filine Sternberg. »Wollen wir es wagen?«
»Wir schlendern
gemütlich weiter, damit wir keinen Verdacht erregen. Sobald wir auf Höhe der Haustür
sind, treten wir unverzüglich ein. Ich weiß, dass sie nie geschlossen ist, wenn
sich der Salon trifft.«
»Einverstanden.«
Sie unterhielten
sich weiterhin, ohne etwas an ihrem Verhalten zu ändern, während die Alte sich schnäuzte
und dadurch etwas zurückfiel. Die angestrebte Tür kam näher, und unvermittelt blieb
Bentheim stehen und drückte die Klinke. Ehe sich Hedwig Lembke
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