Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
Vom Netzwerk:
Glasscheibe das Tageslicht hereinließ, gab es in Reichweite einen Riegel,
um die Dachluke zu öffnen.
    »Er klemmt«,
bemerkte Julius.
    Mit aller
Kraft musste er sich dagegenstemmen, damit der rostige Stift nachgab. Lediglich
etwas mehr als eine Handbreit ließ sich das Fenster hochklappen, aber es genügte,
um nach dem Gegenstand zu tasten. Die erste Suche verlief erfolglos, beim zweiten
Versuch streifte Julius ein durch die Sonne spröde gewordenes Seil, das sich an
einer hervorstehenden Schraube verhakt hatte.
    »Ich hab’s«,
rief er aufgeregt und zog daran. Seine Finger strichen über grobes, hartes Material,
und er tippte auf Hanffasern. Julius schätzte die Richtung ab, in welche das Seil
abgerollt war, und kam zum Schluss, dass Botho Goltz gar nie den Lichtschacht als
Versteck im Sinn gehabt hatte, sondern von Anfang das Messer über den Dachfirst
hin zu einem Schornstein gleiten lassen wollte. Er tastete nach Halt, um sich mit
den Fingern hochzuziehen, und in der Tat erblickte er einen unverputzten Ziegelschlot,
an dessen Fuß ein an dem Seil befestigter Stein lag. Julius sah wieder nach unten:
Mittlerweile war ausreichend Seil den Schacht hinabgeglitten, sodass es von seinen
Freunden aufgefangen werden konnte wurde.
    »Sachte!«,
beschwor er Filine. »Nicht, dass das Messer sich ablöst!«
    »Ich passe
auf.«
    Das Klappern
von Metall, das über das Ziegeldach strich, ertönte, und Julius durchfuhr die Erkenntnis
wie ein Blitz: Es war nicht nur das Messer, das er heranzog, sondern auch ein Bund
mit Lene Kulms Wohnungsschlüssel. Und dann – endlich – bekam er beides zu fassen
und löste Waffe und Schlüssel vom Seil.
    Kurz darauf
hetzten sie die dunklen Treppen hinab, mehrere Stufen auf einmal nehmend, eilten
in den Innenhof, wo das Tageslicht sie blendete, und durch das Durchgangszimmer,
bis sie auf der Marienburger Straße standen. Nach Atem ringend blickten sie sich
um: ein Arbeiter, der mit seinem Ochsenwagen ein paar Fässer auslieferte, ältere
Gouvernanten, einige Schulkinder – niemand, der ihnen nützlich sein konnte.
    Krosick
deutete auf einen eitlen Kaufmannsgecken, der auf einem Pferdchen mit goldenem Trensenzaum
und glitzerndem Sattel übers Pflaster trottete.
    »Da vorn!«
    Julius hatte
verstanden.
    »Werter
Herr«, sprach der Fotograf den weibisch Herausgeputzten an, »wir benötigen Hilfe
in der Not. Wenn Sie die Güte hätten, abzusteigen und uns Ihr Pferd zu überlassen?«
    »Wat erloben
Se sich? Hör’n Se ma, Se Backpfeifenjesicht! Det jeht jar nich’.«
    Krosick
seufzte. Er griff ins Geschirr, wies scheinbar drohend das Messer des Professors
vor und meinte: »Es ist noch ein jeder vom hohen Ross gefallen.«
    »Det is’n
Skandal!«, rief der Reiter kläglich, als ihn die beiden Fremden vom Sattel zogen.
Zitternd vor Wut und mit rotem Kopf stand der Mann auf dem Gehsteig, während sich
Julius hinaufschwang, die Zügel umfasste und sich von Albrecht das Messer reichen
ließ.
    »Werter
Herr, Sie sehen aus, als sei Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen«, sagte der
Fotograf grinsend. »Ich erbarme mich Ihrer und lade Sie zu einem Umtrunk ein.«
    Der Tatortzeichner,
der sich derweil die Waffe zwischen Gürtel und Hose geschoben und dort festgemacht
hatte, streichelte dem Pferd beruhigend über den Kamm bis zum Widerrist und meinte:
»Du hast Leber gesagt, Albrecht!« Und mit diesen Worten gab er dem Tier die Sporen.
    »Sehen Sie,
da prescht er davon, unser Freund, und wir beide müssen uns jetzt einen Leberreim
ausdenken.«
    »Leberreim?«
Irritiert sah ihn der Mann an. »Haste nüscht bess’ret zu tun, als ’n janz’n Tach
besoffen zu sein, du Blubbakopf?«
    »Nein, habe
ich nicht«, lachte Albrecht, als er sich bei dem Unbekannten unterhakte, der nicht
so recht wusste, wie ihm geschah. »Komm mit, du Fannkuchn uff Beene, darauf gehen
wir was saufen. Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Stier, das kommt
uns gerade recht zum Frühstück mit ’nem Bier!«

Vierundzwanzigstes Kapitel
     
    Julius Bentheim scheuchte sein
Ross durch die Berliner Straßen. Er war ein leidlich guter Reiter, aber es reichte
aus, um das Kollegienhaus zumindest schneller zu erreichen, als es mit dem öffentlichen
Pferdeomnibus möglich gewesen wäre. Abgehetzt übergab er das Tier einem Stallburschen
und eilte um das Gebäude herum zum Haupteingang.
    Dichtes
Gedränge herrschte im Innern. Alle Welt war auf den Beinen, um den Ausgang des spektakulären
Prozesses mitzuerleben. In kleineren und

Weitere Kostenlose Bücher