Die dunkle Muse
Möglichkeit
hierzu. Angeklagter Goltz, irgendwelche Bemerkungen Ihrerseits?«
Der Professor
erhob sich und schüttelte verneinend den Kopf. »Es ist alles gesagt, Herr Vorsitzender.
Ich vertraue blind auf Gottes und der preußischen Justiz Schicksalsspruch.«
Das verächtliche
Schnaufen des Richters war durch den ganzen Saal zu hören. Er sammelte sich, indem
er sich die Stirn abtupfte. Mit nüchterner Stimme erklärte er den Geschworenen den
ihnen vom Staat Preußen auferlegten Auftrag der Wahrheitsfindung. Er schärfte ihnen
ein, worauf sie in ihrer Urteilsfindung zu achten hatten, welche Indizien und Beweise
als rechtsgültig angesehen wurden und welche nicht. Schließlich kam er zu den Erläuterungen
des Rechtsgrundsatzes des berechtigten Zweifels.
»Sollte
wenigstens einer unter Ihnen«, erklärte er mit Bestimmtheit, »auch nur den geringsten
Hauch eines Zweifels an der Schuld des Angeklagten verspüren, so ist er angehalten,
auf einen Freispruch hinzuwirken, und zwar so lange, bis entweder seine Zweifel
verflogen sind oder aber die restlichen Geschworenen auf seine Meinung umschwenken.
Des Weiteren möchte ich Sie darauf hinweisen, dass dies keine Beweisregel, sondern
vielmehr eine Entscheidungsregel ist. Ob oder wann Sie Zweifel haben müssen, kann
ich Ihnen nicht vorschreiben; dies müssen Sie selbst mit sich ausmachen. Meine Herren,
das Hohe Gericht gibt Ihnen Zeit bis morgen Vormittag 11 Uhr.« Noch einmal schweifte
sein Blick langsam über die zwölf Männer hinweg, die über das Leben des Professors
zu entscheiden hatten, und entließ sie zur Beratung.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Julius Bentheim schlich sich durch
einen Nebenausgang aus dem Kollegienhaus und verdrückte sich in eines der Seitengässchen.
Niemand folgte ihm und er bestieg eine Droschke, deren junger Kutscher ihn bis zum
Brandenburger Tor fuhr, wo er ausstieg und nach einer zweiten Fahrgelegenheit Ausschau
hielt.
Er verlor
wichtige Zeit – Zeit, die er an Filines Seite verbringen wollte. Wenn er es recht
bedachte, wusste er nicht, ob es dem Pastor zuzutrauen war, ihm irgendwelche Schergen
auf den Hals zu hetzen. Doch Filines und seine Sicherheit gingen vor. Julius schritt
auf und ab, bis die Droschke verschwunden war, erstand bei einem kleinen Verkaufspavillon
ein Vollkornbrot und pfiff nach einem Zweispänner. Er gab dem Fahrer die Adresse
in der Marienburger Straße an und als sie abfuhren, hatte der junge Zeichner kein
Auge mehr für die Schönheit um ihn herum. Passanten flanierten durch den Torbogen,
sie genossen die angenehme Sommernacht, während ein lauer Wind durch die Baumkronen
der Linden säuselte. Hoch oben auf der Attika des Brandenburger Tores stand die
Quadriga, den Triumph des Friedens darstellend, und die Lage dieses monumentalen
Bauwerks war wirklich ›ohnstreitig die schönste von der ganzen Welt‹, wie sein Architekt
Johann Gotthard Langhans einst geschrieben hatte. Aber Julius, der sich absichern
wollte, dass er nicht verfolgt wurde, warf gehetzte Blicke aus dem Wagenfenster.
Als er die
Mietskaserne betreten und die Eingangstür hinter sich zugezogen hatte, blieb er
fünf Minuten in der Dunkelheit des Treppenhauses stehen und wartete ab, ob jemand
eintrat. Nichts geschah. Erleichtert schlich er ins Durchgangszimmer und über den
Innenhof. Wenig später, als er das Dachgeschoss des Nebengebäudes erreicht hatte,
schlüpfte er zu Filine ins Zimmer und schloss sie in die Arme.
Am nächsten
Morgen – es ging auf 8 Uhr zu – pochte es leise an die Tür. Filine Sternberg und
Julius Bentheim saßen gemeinsam zu Tisch, vor ihnen die paar Kanten Brot vom Vortag.
Auf dem Gesicht der Pastorentochter bildete sich wortlos eine Frage.
Der Zeichner
tätschelte ihr beruhigend die Hand.
»Schon gut.
Das wird Albrecht sein.«
Er stand
auf, um ihn einzulassen, und Krosick lächelte freundlich, als er auf Filine zuging
und ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Albrecht! Was für eine freudige Überraschung.
Wir hatten dich eigentlich gestern erwartet. Aber du hast doch hoffentlich heute
etwas mitgebracht?«
»Natürlich,
Filine, und zwar Neuigkeiten für dich und Bier für die Herren der Schöpfung!«
Er trug
einen Korb mit sechs Flaschen Pilsner Urquell mit sich, wovon er zwei auf die Tischplatte
stellte und sich nach Gläsern umsah. Julius, der seine Verlegenheit bemerkt hatte,
griff nach zwei Kaffeetassen. Krosick schraubte den Hartgummipfropfen aus dem Flaschenhals
und schenkte derart ungeschickt ein, dass der
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