Die dunkle Muse
den Kopf des Geliebten der armen Lene
Kulm, die so jämmerlich hatte sterben müssen.
Über all
den spektakulären Nachrichten hatte das neue Semester begonnen und Albrecht und
Julius widmeten sich vermehrt ihren Studien. So kam es, dass Bentheims Stunden der
vergnüglichen Zweisamkeit mit seiner Freundin seltener, aber auch wertvoller wurden.
»Es kommt, wie es kommen muss«, meinte Filine Sternberg niedergeschlagen, als sie
eines Abends einen Artikel der Spenerschen Zeitung zu Ende gelesen hatte, in dem
ein junger, aufstrebender Anwalt bekannt gab, einen Prozess gegen Gregor Haldern
anzustreben. Als gäbe es nichts Wichtigeres in der Welt, wurde die Justiz nicht
müde, Anklage zu erheben, Geschworene zu vereidigen und Lenes Geliebten vor Gericht
zu zerren. Es lag in der Natur der Dinge, dass sich kein Verteidiger fand, der gewillt
gewesen wäre, für einen armen Schlucker pro bono zu arbeiten. Haldern stand auf
verlorenem Posten.
Was Bentheim
schon immer irritiert hatte, war der Umstand, dass Haldern in der Tatnacht so phlegmatisch
gewesen war. War er betrunken gewesen und hatte seinen Rausch ausschlafen müssen?
Hatte er Angst gehabt? Ohne akzeptable Antwort auf diese Fragen sah es schlecht
aus für ihn. Denn der Pflichtverteidiger, der ihm zugewiesen wurde, war völlig unerfahren,
kam frisch von der Universität und hatte zuvor noch nie einen Fall übernommen. Bereits
am 11. Oktober wurde das Urteil gegen ihn gefällt: Es lautete auf Tod durch den
Strang und sollte am folgenden Samstagnachmittag – also schon drei Tage später –
öffentlich vollstreckt werden.
An dem Mittwoch,
an dem dies bekannt wurde, kam Albrecht Krosick nach einer Abendvorlesung zu Filine
und Julius in die Dachwohnung. Er brachte zwei dicke Romane vorbei – Sheridan Le
Fanus ›Onkel Silas‹ und Wilkie Collins’ ›Frau in Weiß‹ in der Übersetzung von Marie
Scott – und erzählte ihnen von den neuesten Entwicklungen.
»Es ist
amtlich«, erklärte er. »Am Samstag wird er baumeln.«
»Der arme
Kerl.«
Filine blickte
aus dem Gaubenfenster und ließ den Blick über die düstere Dächerwelt der Mietskasernen
schweifen.
Krosick
fuhr fort: »Aber das ist noch nicht alles, meine Freunde. Der Professor hat auf
Sonntagnachmittag um 15 Uhr einen halb-öffentlichen Vortrag angekündigt. Als Vertreter
des anthropologischen Renan-und-Feuerbach-Vereins hat er einige illustre Gäste eingeladen.
Vortragsort wird die Akademie der Künste sein. Ich hatte das Glück, mir zwei Eintrittskarten
zu sichern.«
»Worüber
wird er sprechen?«, erkundigte sich Bentheim, von einer bösen Vorahnung erfüllt.
Er wusste, dass die Wahl dieses Termins kein Zufall war.
»Es wird
ein Essay werden mit dem vielsagenden Titel: ›Ars necandi – Über die Kunst des Tötens‹.«
»Vom Morden
also«, meinte Filine, die sich vom Fenster zurückzog. »Dieser Kerl ist verachtenswert.
Ein die Menschen derart gering schätzender Zynismus ist mir noch nie untergekommen.
Es hat beinah den Anschein, als sei das Morden ein intellektuelles Spiel für ihn.«
»Das ist
es wohl«, meinte Bentheim und legte ihr die Arme um die Taille. Filines Haar war
inzwischen wieder nachgewachsen; eineinhalb Zentimeter lang war ihre blonde Frisur,
mit der sie einem Knaben glich. Mit dem Stolz der jungen Frau, die sich von den
Banden ihres Vaters löst, hatte sie sich geweigert, eine Perücke zu tragen. Sie
versteckten sich noch immer vor den Nachstellungen des Pastors, und Bentheim hatte
schriftlich um ein Gespräch bei ihm angesucht. Sein Brief jedoch – als Absender
hatte er seine Adresse bei Witwe Losch angegeben – blieb bisher unbeantwortet.
»Wirst du
mich begleiten, Julius?«
»Zum Vortrag?«
»Auch dahin«,
meinte der Fotograf und unterließ es wohlweislich, Halderns Exekution beim Namen
zu nennen.
Der Zeichner
wagte es nicht, Filine anzublicken, als er Krosick seine Zusage gab.
»Er ist
ein böser Mensch«, flüsterte die Pastorentochter, »ein abgrundtief böser Mensch.«
Sie schwiegen
geraume Zeit, bis Krosick Julius die Hand drückte. Um die angespannte Stimmung zu
lockern, meinte er leichthin: »Ich muss mich leider verabschieden, ich habe einen
wichtigen Termin im Müttergenesungsheim.«
Doch weder
Filine noch Julius, der wusste, dass dies Albrechts Bezeichnung für das Bordell
war, verzogen das Gesicht zu einem Lächeln.
Am Samstag drängte das Volk in Massen
auf den Molkenmarkt. Alle und jeder wollten der Urteilsvollstreckung an Lene Kulms
vermeintlichem
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