Die dunkle Muse
meinte er nachdenklich. »Ich glaube, es war Horaz, der
der Menschheit eine vitale Neugier auf das Grausame unterstellte.«
»Ich dachte
übrigens, Sie weilten in der Schweiz«, suchte Julius einen Anknüpfungspunkt für
ein Gespräch.
»War ich
auch, war ich. Einen ganzen Monat lang – von Ende August bis Ende September – haben
wir eine Familienreise unternommen, Emilie, die Kinder und ich. Wir waren am Rhein
und in der Schweiz und ich habe wieder geschrieben.«
»Balladen
und Preußenlieder?«
»Irrtum,
Bentheim – ein Tagebuch zum Schleswig-Holsteinischen Krieg.«
»Starker
Tobak.«
»Aber nicht
so deftig wie das Schauspiel da vorn!«
Fontane
deutete nach Süden, wo sich vor den mehrstöckigen Fassaden der Adelspaläste das
Bild des Galgens grausig ausnahm. Der Verurteilte erklomm die Stufen des Gerüsts
und nahm Aufstellung unter dem Strick, der sanft im Wind schaukelte. Einer der Henkersknechte
legte Haldern das Seil um den Hals, zog den Knoten an und stülpte eine schwarze
Kapuze über den Kopf des Verurteilten. Wie eine Mütze rollte er sie ihm wieder nach
oben hin zusammen, damit die Augen unbedeckt blieben.
Halderns
Blick schweifte unstet umher.
Die Person,
die an ihn herantrat, trug ein Buch in der Rechten, was Bentheim die Schlussfolgerung
ziehen ließ, es handle sich dabei um den Pastor. Tatsächlich erhob der Mann die
Stimme, um ein Gebet anzustimmen. Die Worte klangen nasal und erschreckend kindlich
und sie hätten für allgemeine Heiterkeit gesorgt, wenn der Augenblick nicht so beklemmend
und ernst gewesen wäre.
»Himmlischer
Vater«, sagte der Geistliche mit Emphase, und Stille legte sich wie ein Leichentuch
über die Versammlung. »Für die armen Seelen im Fegefeuer opfere ich Dir alle Sühnegebete
und Leiden meines Lebens auf sowie auch alle, die nach meinem Tod für mich aufgeopfert
werden. In Vereinigung mit den Verdiensten Jesu und Mariens und aller Heiligen trete
ich für die Kraft und Herrlichkeit des himmlischen Glaubens ein. Amen.«
»Amen!«,
erscholl es über den Platz.
Selbst dem
so realitätsnahen, pragmatisch denkenden Dichter neben Bentheim und Krosick entfloh
dieses kleine Wort.
Ein weiterer
Mann, diesmal in Robe, trat vor und sprach Gregor Haldern an, doch die Richtstätte
war zu weit entfernt, um etwas von dem leise geführten Gespräch hören zu können.
Der Mann deutete eine Bewegung an, und die Henker zogen dem Delinquenten die Kapuze
wieder über die Augen. Trommelwirbel brandete auf, sodass eine atemlose Spannung
die Zuschauer erfasste, und als die Musikanten schließlich innehielten, klappte
der Boden der Falltür nach unten …
Sechsundzwanzigstes Kapitel
In den frühen Morgenstunden des
nächsten Tages entlud sich ein intensives Herbstgewitter über Berlin, wie um den
Schmutz und Unrat der Stadt wegzuwaschen. Noch am Mittag tropfte es vom Geäst der
Bäume. Blätter lagen auf den Straßen, abgerissene Zweige mussten aufgelesen werden,
um die Fahrbahnen für die Pferdeomnibusse und Kutschen freizumachen. Julius Bentheim,
der das Los seiner Freundin bedauerte, ließ es sich nicht nehmen, das schlechte
Wetter zu nutzen.
»Kein Hund
ist auf der Straße, Finchen«, meinte er zuversichtlich. »Wir gehen aus und essen
was Feines.«
Für dieses
eine Mal ließ auch sie ihre Vorsicht fahren und nahm den Vorschlag an. Sie zog sich
eine Haube über, die zu ihrem einzigen Ausgehrock passte, und hakte sich am Arm
ihres Freundes ein. Lange genug war sie eingesperrt gewesen, wie ein Vogel im Käfig,
und genoss die Frische der Luft, die sich über das Quartier gelegt hatte. Die Verliebten
lebten in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sei es von Filines Vater oder von
jener Abordnung Beamter, die bald schon erscheinen würden, um die Habseligkeiten
des Hingerichteten zu inventarisieren und die Wohnung für die weitere Vermietung
freizugeben.
Sie lenkten
ihre Schritte auf das nächstbeste Gasthaus zu, das ihnen behagte. Für das Frühstück
war es zu spät, für das Mittagessen noch zu früh, und so begnügten sie sich vorerst
mit Getränken. Eine Stunde lang plauderten die Verliebten, bestellten sodann Salat
und Lendenstücke mit Bratkartoffeln und machten sich eifrig über das Essen her.
»Wie geht
es weiter, Julius?«, fragte Filine zwischen zwei Bissen.
»Mit uns?«
Sie nickte.
»In spätestens
zwei oder drei Wochen muss uns dein Vater Gehör schenken.«
»Das wäre
der Optimalfall, Schatz. Aber dein viel zitiertes Gesetz über Entführungen besagt
doch,
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