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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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Mörder beiwohnen. Händler mit umgeschnallten Bauchläden brachten
Gebäck an den Mann; kühle Getränke waren im Angebot, auch süße Naschwaren für die
Kinder. Bentheim und Krosick positionierten sich bewusst etwas abseits, entfernt
vom wesentlichen Geschehen. Sie überquerten deshalb die Grunerstraße, wo sie vor
der Baustelle des neuen Rathauses auf die Kisten kletterten, in welchen die roten
Klinkersteine für dessen Fassade gelagert wurden. Von hier aus hatten sie gute Sicht
auf das Schafott.
    Hinter ihnen
erhob sich das halb fertige Gemäuer. Der Turm, vom Architekten Friedrich Waesemann
geplant, hatte bereits eine stattliche Höhe erreicht und sollte bald sogar jenen
der Nikolaikirche überragen. Die Freunde ließen die Beine baumeln und verfolgten
das Treiben der Menge, die in südlicher Richtung inzwischen wie die Flut zwischen
den Pfeilern einer Pier vor und zurück wogte. Man stieß und drängte sich, man reckte
den Hals, um besser sehen zu können. In dem Gebäude neben dem Palais des Oberfeldmarschalls
von Grumbkow, in dem sich Polizeipräsidium und Stadtvogtei befanden, hatten jahrelang
die Produktionsstätten der zentralen Tabak-Monopolregie ihren Sitz gehabt. Mehrere
Männer, die dort gestanden hatten, folgten dem Beispiel der Freunde und überquerten
ebenfalls die Grunerstraße. Als sie sich unten an die Kisten lehnten, Zigarren anzündeten
und der blaue Dunst den beiden Studenten in die Nase stieg, dachte Bentheim unwillkürlich
daran, dass früher das ganze Areal so gerochen haben musste.
    Weiter vorn
ging ein Raunen durch die Zuschauer, was Julius und Albrecht wieder den Kopf heben
ließ. Aus dem Tor des Palais bewegte sich eine Prozession von Würdenträgern. Den
Roben nach zu urteilen, waren zwei oder drei Juristen darunter, auch einige Gendarmen,
zwei Musiker sowie ein Priester. Mitten unter ihnen, mit eisernen Ketten gefesselt,
konnte die unglückselige Gestalt des Delinquenten ausgemacht werden. Halderns Gesicht
war eingefallen, er wirkte verzagt, aber nicht dermaßen, als hätte er bereits vollständig
mit dem Leben abgeschlossen. Das Berliner Publikum ähnelte einer toll gewordenen
Versammlung; es glich Geiern, die aus großer Entfernung das Aas erspäht hatten und
aus allen Winkeln herbeigeeilt waren.
    Gemessenen
Schrittes steuerte der Zug auf die Hinrichtungsstätte zu, durch massive hölzerne
Schranken von der Menschenmenge abgetrennt. Allmählich verebbte der Lärm, bis sich
eine Stille über den Platz legte, die einzig von den vereinzelt auftretenden Rufen
der Händler durchbrochen wurde, die ihre Ware anpriesen. Selbst auf der Baustelle
des Rathauses hielten die Maurer in ihrer Arbeit inne und zeigten sich auf dem bereits
fertiggestellten umlaufenden Balkon in Höhe des ersten Stockwerks.
    Ein auf
Stelzen getragener Bretterboden bildete das Schafott. Am rechten und linken Rand
der Konstruktion hatten die Zimmermänner zwei dicke Vierkantträger befestigt, deren
aufragende Enden durch einen soliden Balken verbunden waren. In der Mitte hing ein
Galgenstrick, exakt darunter befand sich die Öffnung einer Falltür. Zwei Henkersknechte,
beide mit Kniebundhosen und schwarzen Kapuzen, die ihre Gesichter verdeckten, überprüften
in aller Gemütsruhe den tödlichen Mechanismus. Es war ein mittelalterlich anmutendes
Bild, das da heraufbeschworen wurde, und in einer Mischung aus Abscheu und Faszination
verfolgten die Freunde das Spektakel.
    »He, junger
Bentheim, legen Sie mal Hand an!«, vernahm der Tatortzeichner eine Stimme, die ihm
bekannt vorkam und ihn aus den makabren Betrachtungen riss. Er richtete den Blick
nach unten. Ein Arm reckte sich ihm entgegen, und der schnurrbärtige Mann, dem dieser
Arm gehörte, zwinkerte ihm freundlich zu. »Na los doch, ziehen Sie einen alten Sympathisanten
der Revolution zu sich hoch!«
    »Herr Fontane,
welch eine Freude, Sie hier zu sehen.«
    »Fontan!
Ohne E, schlicht und einfach Fontan. Wie oft muss man das denn wiederholen?«
    Julius und
Albrecht halfen dem Schriftsteller zu sich auf die Mauer. Der 46-jährige Literat
holte tief Atem, als er sich zwischen die Freunde setzte, und ließ betrübt den Blick
über die Menge wandern. »Der Herrgott im Himmel kennt keinen Tauschhandel«, meinte
er. »Dieses junge Ding, diese Lene Kulm, wird auch nicht wieder lebendig, wenn der
Hals des Mannes da vorn bricht. Widerlich. Einfach nur widerlich, was hier abgeht.«
    »Und dennoch
lassen Sie sich die Sache nicht entgehen.«
    »Ja, da
treffen Sie ins Schwarze«,

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