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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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dass die Eltern einer geraubten Tochter sogleich einer Heirat zustimmen, um
einem Skandal keinen Vorschub zu leisten.«
    »So wäre
es geplant gewesen, wenn dein Vater in seiner Gemeinde nicht herumerzählt hätte,
du seiest bei Verwandten in Bremen.«
    »Aber ich
habe doch gar keine Verwandten in Bremen.«
    Bentheim
legte die Gabel ab und griff nach Filine Sternbergs Hand. »Finchen, schau, die Sache
ist verzwickt. Von Albrecht weiß ich, dass die Lembke inzwischen eine andere Arbeit
gefunden hat und nun Zugehfrau bei einem Großkaufmann ist. Dein Vater ist allein
in seinem Haus und niemandem Rechenschaft schuldig. Er zählt darauf, dass wir es
sind, die einlenken werden. Solange niemand erfährt, dass du auf und davon bist,
wartet er ab. Und es liegt auch in unserem Interesse, keinen Skandal heraufzubeschwören.«
    »Irgendwie
habe ich mir das Ganze anders ausgemalt«, meinte sie betrübt, denn für sie gab es
derzeit nichts, wofür die schwärmerische Fantasie eines jungen Mädchens empfänglich
wäre. »Mittlerweile ist das nicht mehr und nicht weniger als eine unausgegorene
Situation, Julius, und keine Romantik.«
    »Sei unbesorgt,
Finchen«, sagte Bentheim. »Irgendwann muss er nachgeben. Er muss einfach.«
     
    Am Nachmittag, als sie wieder zu
Hause in ihrer Dachkammer saßen, holte Albrecht Krosick Bentheim ab. Er war mit
einer Droschke vorgefahren, die unten auf die beiden Studenten wartete. Sie ließen
sich nach der Dorotheenstadt kutschieren, wo über dem Marstall die Königlich-Preußische
Akademie der Künste lag. Im Gegensatz zu Krosick, der zum ersten Mal hier war, kannte
Bentheim das Gebäude in- und auswendig, in dem er als Jugendlicher seine ersten
Malkurse besucht hatte.
    Die jungen
Männer betraten beim Eingang eine lange Galerie, in welcher auf Kragsteinen die
Brustbildnisse der zwölf ersten Kaiser Roms ruhten. Linker Hand reihten sich sechs
Zimmer aneinander.
    »Hier im
ersten Raum wurde ich in die Zeichenkunst eingewiesen«, erzählte Julius. »In den
anderen malt man nach Kupferstichen, nach Originalzeichnungen alter Meister oder
nach Gips und kleinen Modellen.«
    »Und weiter
hinten?«, fragte Albrecht, denn sie lenkten ihre Schritte auf die letzten Räumlichkeiten
zu.
    »Im fünften
Raum werden Collegia abgehalten: Anatomie, Perspektive, Geometrie und so weiter.
Aber der hinterste Saal ist wohl unser Ziel – sieh doch, ein Hinweisschild!«
    Tatsächlich
war der Weg zur Vorlesung ausgeschildert. Die Tür am Ende des Ganges war nur angelehnt
und gedämpftes Stimmengemurmel drang in den Flur. Sie traten in einen zum Hörsaal
umfunktionierten Raum ein. Vorn war ein Katheder aufgestellt, daneben befand sich
eine grüne Schiefertafel auf Rädern. Darauf geschrieben stand ein Zitat von Schelling,
das, zumal es aus dem Zusammenhang gerissen war, ungleich zynischer wirkte: ›Die
hohen Geister stehen über dem Gesetz.‹ Des Weiteren waren sieben Dutzend Stühle,
zwei Drittel davon bereits besetzt, in sieben Reihen angeordnet. Die vorherrschenden
Töne waren das Braun und Schwarz der Gehröcke und Sommermäntel der Herren. Einzig
das helle Rot eines Damenhuts inmitten dieser trüben Farbwüste gab einen irritierenden
Tupfer ab. Die Besitzerin des besagten Huts wandte den Blick den Neuankömmlingen
zu und wedelte mit der Hand.
    »Hierher,
Herr Bentheim, es sind noch Plätze frei«, rief Fanny Lewald ihm zu.
    Julius und
Albrecht nahmen das Angebot an. Sie gesellten sich zu der Gruppe um die Literatin,
und Bentheim stellte seinen Freund vor. Der Schriftsteller Retcliffe war an ihrer
Seite, ebenso ihr Gatte, der ebenfalls schriftstellerisch tätige Adolf Stahr. Sie
tauschten einige Floskeln aus und Bentheim war glücklich darüber, dass Albrecht,
der das hässliche Doppelkinn der Dichterin mit geübtem, schnellem Blick begutachtet
hatte, für einmal den Mund hielt und nicht ins Fettnäpfchen trat.
    »Ein Faszinosum,
dieser Herr Professor«, lenkte Sir John Retcliffe das Gespräch auf das Thema des
Tages. »Rechtlich gesehen zwar unschuldig, aber in moralischer Hinsicht wohl vollumfänglich
schuldbeladen. An diesem Vortrag interessiert mich hauptsächlich ein Aspekt: jener
der Schuld und der Motivation, eine Schuld auf sich zu nehmen.«
    »Meine Worte,
Sir John«, meinte Fanny Lewald. Dabei drapierte sie sorgfältig den Faltenwurf ihres
Rockes und griff nach der Hand ihres Gatten zu ihrer Rechten. »Wer die Meldungen
in den Zeitungen verfolgt hat, weiß um den Verlauf der Mordsache Kulm. Nur der

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