Die dunkle Muse
Aspekt
des Motivs blieb im Verborgenen. Was ist Ihre Meinung, Herr Bentheim?«
Julius,
der links von ihr Platz genommen hatte, erwiderte: »Ich nenne das Glück oder Unglück
mein Eigen, den Prozessverlauf aus nächster Nähe erlebt zu haben, und ich kann Ihnen
verraten, dass für mich ebenfalls nur noch dieser Aspekt von Interesse ist. Aber
sehen Sie doch, dort in der ersten Reihe – sogar die ermittelnden Beamten wurden
eingeladen.«
Er deutete
mit einem Kopfnicken nach vorn, wo soeben die zwei Kommissare Horlitz und Bissing
ihre leichten Sommermäntel über die Lehnen ihrer Stühle legten.
»Der Herr
Professor scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein«, bemerkte Adolf Stahr,
»wenn er sogar seine größten Kontrahenten einlädt.«
»Es kann
ihm nichts mehr passieren«, warf Krosick ein, der vom äußersten Rand aus gebannt
das Gespräch verfolgte. Den Körper leicht vorgebeugt, damit ihn auch noch Stahr
und Retcliffe sehen konnten, führte er aus: »Es ist einer der wichtigsten Rechtsgrundsätze,
dass eine Person niemals ein zweites Mal für ein und dieselbe Tat verurteilt werden
darf. ›Ne bis in idem‹, wie der Lateiner sagen würde. Angeblich geht der Grundsatz
sogar bis auf Demosthenes und damit auf die Griechen zurück. Der Sinn dahinter ist,
dass ein einmal gefälltes Urteil rechtsgültig, aber auch endgültig ist. Im Allgemeinen
schützt dies die Bürger vor willkürlicher Strafverfolgung. Ein Gericht kann nicht
einfach immer und immer wieder aufs Neue in einer Sache tagen, bis ein ihm gefälliges
Urteil verkündet wird.«
»Aber falls
ein Mörder seine Tat gestehen würde …?«, wollte Fanny wissen.
»Sie hoffen
darauf, nicht wahr?«, meinte Albrecht amüsiert.
»Wenn Sie
die Neugier am Sensationellen ansprechen, welche der Frau angeblich angeboren sein
soll, muss ich Sie enttäuschen, junger Herr. Mich interessiert der Fall vom intellektuellen
Standpunkt aus.«
Noch ehe
sein Freund zu einer Replik ansetzen konnte, unterbrach ihn Bentheim, indem er zum
Katheder zeigte.
»Es geht
los«, meinte er.
Ein junger
Mann hatte sich beim Stehpult zu schaffen gemacht und einen Papierstapel auf die
Ablagefläche gelegt. Das Publikum verstummte allmählich und als der Mann, der das
Flair eines einfachen Universitätsangestellten verströmte, gegangen war, betrat
der Professor den Raum.
Bentheim
stockte der Atem angesichts des Anblicks, den Botho Goltz bot. Seine Bekleidung
war dieselbe wie in der Tatnacht: ein vornehmer Herrenanzug, bestehend aus grauer
Hose mit anknöpfbaren Hosenträgern und einem langen Gehrock. Auch die Weste aus
gemusterter Seide fehlte nicht. Für Horlitz und Bissing musste der Anblick der reinste
Hohn sein.
Der rothaarige
Professor schritt gemächlich auf das Katheder zu; seine Gangart ähnelte einem Stolzieren.
Dort angelangt, verbeugte er sich, erst nach links, dann nach rechts, wobei ein
süffisantes Lächeln seine Lippen umspielte. Sein Bart war gepflegt und leuchtete
in dem hellen Licht, das durch die Scheiben fiel. Mehr denn je ähnelte er mit seinem
entschlossenen Gesichtsausdruck jener Darstellung Barbarossas auf einem kolorierten
Kupferstich von Christian Siedentopf – nur mit dem Unterschied, dass er keinen Helm
trug und sein Bart kürzer geschoren war.
Mit liebenswürdiger
Bestimmtheit verkündete Botho Goltz: »Geschätzte Freunde, werte Gäste! Ich werde
nun einen Vortrag halten über eine Vollkommenheit ganz eigener Art, die weniger
im realen Leben als in der Kriminalliteratur prominent vertreten ist: nämlich der
perfekte Mord. Dabei werde ich keineswegs von trivialen, abgedroschenen Gemeinplätzen
sprechen, sondern viel eher das anklingen lassen, was die onirische Seite in uns
allen in Schwung versetzt.«
Er vollführte
eine ausholende Geste, griff nach den Blättern, die vor ihm lagen, und meinte: »Die
Vollkommenheit eines Verbrechens, verehrte Zuhörerschaft, besteht nach Ansicht vieler
darin, dass es nicht aufgeklärt werden kann. Fasst die Polizei einen Täter, ist
im Umkehrschluss das Verbrechen nicht vollkommen. Wie man also einer Aussage wie
›X ist ein perfekter Mord‹ Sinn geben kann, möchte ich anhand weniger Punkte skizzieren.
Es ist gerade einige Monate her, dass im anthropologischen Renan-und-Feuerbach-Verein
hier in Berlin unter einigen Vereinsmitgliedern eine Diskussion stattfand, die exakt
diesen Leitgedanken zum Inhalt hatte – nicht wahr, Herr Bissing? Sie erinnern sich
doch daran?«
Verächtlich
blickte er in die erste Reihe
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