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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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hinab. Der Kommissar biss sich auf die Lippen, wie
Bentheim erkennen konnte, und regte sich nicht. Seine Miene war wie versteinert.
    »Nun, mehrere
Faktoren spielen eine Rolle: die Tatwaffe, das Opfer, das Motiv, vermeintliche Zeugen
oder das Alibi, um nur einige zu nennen. Namhaft zu machen ist auch folgendes Kriterium:
Der Mord wird gar nicht als Verbrechen erkannt. Doch all die bekannten Definitionen
über das perfekte Verbrechen greifen zu kurz. Sollte selbst nach Wochen, nach Monaten,
gar nach Jahren ein Mörder nicht gefasst sein, ist diesem beileibe noch kein perfekter
Mord gelungen. Wir wollen die ›Metaphysik‹ des Aristoteles zu Rate ziehen, in der
behauptet wird, etwas gelte als vollendet, wenn es nicht mehr überboten werden kann.
Ein Mord gilt somit – und nur dann – als vollendet, wenn der Mörder nicht mehr gefasst
werden kann. Just hier, meine Herren, stoßen wir auf unser Problem: Jeder nicht
gefasste Mörder ist dem Risiko ausgesetzt, der Tat doch noch überführt zu werden.
Dies kann im hohen Greisenalter passieren oder selbst nach dem Tod; davor gefeit
ist niemand. Wie man dieser Gefahr entgeht, möchte ich heute skizzieren. Zuvor jedoch
werde ich ein paar allgemeine Betrachtungen zum moralischen Standpunkt anführen.
Kritische Geister werden anmerken, es sei ein Verbrechen vor Gott, jemanden zu töten.
Diesbezüglich habe ich einmal einen amüsanten Bericht über ein armes Würstchen gelesen,
das unter Allmachtsfantasien und einem argen Vaterkomplex litt. Ich glaube, das
Buch hieß ›Das Neue Testament‹ oder so ähnlich und erläuterte in seltsamen Gleichnissen,
dass man seine Mitmenschen nicht ärgern solle.«
    An dieser
Stelle beugte sich der aufmerksame Retcliffe vor, und Bentheim war es, als habe
er ein erfreutes Glucksen vernommen.
    »Auch die
in der französischen Revolution erkämpften und teilweise wieder rückgängig gemachten
angeblichen Freiheiten sprachen von Gleichheit zwischen den Menschen. Bis zum heutigen
Tag aber gibt es keinen schlüssigen Beweis, der diesem Dafürhalten entspricht. Im
Gegenteil: Die moderne Naturwissenschaft geht davon aus, dass Schicksal und Charakter
des Menschen durch sein Erbgut, sein Milieu und die historische Zeit, in welcher
er lebt, determiniert sind. Einer der genialsten Köpfe unserer Zeit, ein Professor
für Ästhetik und Kunstgeschichte an der Pariser École des Beaux Arts mit Namen Hippolyte
Taine, beschrieb im Vorwort seiner jüngst erschienenen ›Geschichte der englischen
Literatur‹ diese Milieutheorie genauer. Die geistige, kulturelle, sogar die historische
Leistung eines Volkes oder einer Nation lässt sich auf einen einfachen Nenner zurückführen:
Schöpferisch tätige Menschen weisen die Zugehörigkeit zur selben Rasse auf, während
weniger schöpferische Menschen einer anderen Rasse zugewiesen werden können. Wenn
Milieu und Vererbung eine Bedingtheit des Menschen bilden, der man nicht entfliehen
kann, so frage ich Sie, wertes Publikum: Ist jedes einzelne Individuum unter uns
überhaupt noch etwas Besonderes, etwas Wertvolles? Alle Menschen sollen angeblich
Brüder sein. Aber ich frage Sie, ja, genau Sie, Frau Stahr …«
    In der Mitte
der Zuhörerschaft hatte der Professor die Literatin erblickt. Indem er sie persönlich
ansprach und mit dem Finger auf sie deutete, rückte er Fanny Lewald in den Mittelpunkt
des Interesses. Köpfe wandten sich ihr zu; nur welche Reaktion sie zeigen würde,
war nun von Belang. Genussvoll wiederholte Botho Goltz seine Überleitung und meinte:
»Ich frage Sie, Frau Stahr, die Sie so vehement für die Gleichberechtigung einstehen
– und antworten Sie ehrlich: Ist der Mosambikneger Ihr Bruder? Die verrohte, nackte
Indiofrau Ihre Schwester? Der alte stinkende Hottentotte Ihr Oheim?«
    Er erwartete
keine Antwort, sondern begnügte sich damit, Lewalds Wangen rot anlaufen zu sehen,
und meinte leichthin: »Für meinen Teil kann die vertraute Denkfigur, dass das Böse
nicht ohne das Gute erfahrbar ist, ad acta gelegt werden. Wie der Philosoph Alfredo
Casanelli eindrücklich bewiesen hat, ist böse lediglich das, was gültigen moralischen
Normen widerspricht. Wenn der Mosambikneger aber erwiesenermaßen einer Rasse angehört,
die der unsrigen unterlegen ist, liegt es in der Natur der Dinge, dass er unterjocht
wird. Und seien wir ehrlich: Wer sich knechten lässt, ist ohnehin nichts wert. Doch
warum in die Ferne schweifen, warum in Afrika verweilen? Ich möchte Ihnen allen
die letzte Gewissheit vermitteln,

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