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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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dass wir nicht von diesem entsetzlichen Gedanken
verschlungen werden, sondern mit ihm spielen dürfen. Die dunkle Muse, das sogenannte
Böse, soll uns für einmal willkommen sein. Versenken wir uns einmal in unserer Imagination
ins Abartige, Widerwärtige und Grausame; folgen Sie ungehemmt dieser Gedankenkette.
Wer sind denn unsere Mohren, unsere rückständigen Arten? Natürlich die Arbeitslosen,
die Alkoholiker, die Huren und Erniedrigten in der Gosse, die nach Sonnenuntergang
aus ihren Löchern gekrochen kommen und unsere Stadt zu einem kranken und verkommenen
Pfuhl machen. Die Verelendeten und Behinderten, die Krüppel und Kriminellen, die
Irren und geistig Umnachteten. Säufer und Schläger wie dieser Gregor Haldern und
verkommene Nutten wie Lene Kulm. Die natürliche Zuchtwahl, die der Zufall vor ein
paar Jahren in Form von Finkenschnäbeln einem englischen Theologen vor die Füße
warf, soll meiner Meinung nach einer menschlichen Zuchtwahl weichen: Die Guten ins
Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.«
    Ein Aufschrei
des Entsetzens ging durchs Publikum. Doch Goltz führte weiter aus: »Im Mai vor zwei
Jahren weilte ich in Stettin, um einer Versammlung deutscher Ärzte und Naturforscher
beizuwohnen. Der von mir verehrte Zoologe Ernst Haeckel stellte dort seine Forschungsergebnisse
vor und ich kann seinen Schlussfolgerungen nur zustimmen, dass ethische Normsetzungen
in unserer Gesellschaft nutzlos sind, weil in der Natur ohnehin nur das Bestand
haben wird, was das Überleben ermöglicht.«
    »Es reicht!«,
meldete sich jemand aus der Menge. »Das ist ja abscheulich!«
    Bentheim
wusste nicht, wer gerufen hatte, aber schon erhob ein weiterer Mann die Stimme:
»Sie verkommenes Subjekt!«
    Es war Gideon
Horlitz. Er war aufgestanden und wollte gehen, doch Moritz Bissing, der vor Zorn
zitterte, hielt ihn am Hemdsärmel fest und zog ihn zurück auf den Stuhl. Ungerührt
nahm der Professor den Faden seiner Ausführungen wieder auf: »Um endlich auf den
Grundgedanken meiner These zurückzukommen, werte Zuhörer, möchte ich festhalten,
dass nach der von Aristoteles aufgestellten Behauptung ein Mord dann perfekt sei,
wenn der Mörder nicht gefasst werden könne. Ich erweitere diese These und behaupte:
Ein Mord ist erst dann perfekt, wenn der Mörder gefasst, aber freigesprochen wird.
Fortan ist er aller Sorgen ledig, niemand wird ihn mehr für seine Straftaten belangen.
Und ich möchte nachschicken, dass es mir keineswegs Gewissensbisse verursacht, die
beiden Ausgestoßenen unserer Gesellschaft vom Antlitz der Erde getilgt zu haben.
Schmutz ist da, um entfernt zu werden, und es war von Anfang an vorgesehen, nicht
nur Lene Kulm, sondern gleich auch noch Gregor Haldern zu entfernen. Das Kriterium,
das zu meiner Entscheidungsfindung führte, war einfach: Welches Leben ist nutzlos?
Welches schadet dem Gemeinwohl mehr, als es ihm nützt?«
    Er legte
das letzte Blatt seiner kurzen Rede zurück auf das Kathederpult und blickte mit
betont freundlichem Ausdruck in die Runde. Eine Mischung aus Empörung und Ratlosigkeit
hatte die Anwesenden erfasst. Demonstrativ erhoben sich einige und strebten dem
Ausgang zu. Auch Fanny Lewald und Adolf Stahr hielt es nicht mehr auf den Plätzen.
Ihre Verabschiedung war den Umständen entsprechend sehr wortkarg und Albrecht Krosick
zog die Beine an, um das Schriftstellerpaar durchzulassen. Sir Retcliffe war hin
und her gerissen. Seine Augen folgten den Freunden, um gleich darauf wieder zum
Katheder zu blicken, wo Botho Goltz sich wie ein liebenswürdiger Dozent gerierte
und Fragen der Zuhörerschaft beantwortete.
    Eine kleine
Traube an Menschen hatte sich um ihn versammelt. Sie sprachen ihn an, rührten an
heikle Punkte seiner Mordtat und wollten wissen, wie er die Tatwaffe habe verschwinden
lassen, wie er die Polizei durch das Offensichtliche habe täuschen können und weshalb
er kein Alibi gebraucht habe. Mit herzhafter Gemütlichkeit stand er Rede und Antwort.
Julius und Albrecht drängten nach vorn, hin zum Katheder, an die Seite von Horlitz
und Bissing und einiger anderer, die den Professor umstanden.
    »Sieh an,
mein Porträtist aus dem Gerichtssaal«, meinte Goltz höflich, als Bentheim vor ihm
stand. »War ich ein dankbares Modell?«
    »Mehr als
das«, meinte Julius. »Es ist selten genug, dass mich mein Gegenüber wirklich fasziniert
und mir Fragen aufwirft.«
    »Sie haben
also noch Fragen? Der Wissensdurst der Jugend. Löblich, löblich. Was möchten Sie
wissen?«
    »Herr

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