Die dunkle Schwester
Tania. Diese Augen hatte sie schon einmal gesehe n – in einem Albtraum.
Doch bevor sie auch nur einen Finger rühren konnten, stürzte das Monster ins Licht heraus. Es stand auf vier Klauenfüßen und war fast zwei Meter groß, mit einem zottigen Rumpf und einer Löwenmähne, doch die Hinterbeine waren statt mit Haaren von schwarzen Schuppen bedeckt. Der dicke, mehrgliedrige Schwanz wölbte sich über seinem Rücken auf wie ein Skorpionstachel, und aus der Spitze oben tropfte zähes gelbes Gift.
Doch das Schlimmste an dem Untier war sein hassverzerrtes Gesicht, das entfernt an das eines Menschen erinnerte und darum umso furchterregender wirkte. Die roten Augen glühten gespenstisch und aus dem breiten, weit aufgerissenen Maul ragten spitze gelbe Fangzähne hervor.
»Eine Mantigora«, flüsterte Edric. »Der Wächter ist eine Mantigora!«
Tania bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit aller Kraft nach dem Monster. Sie hatte gut gezielt: Der Stein traf die Mantigora an der Stirn, konnte ihr aber nichts anhaben. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll setzte sie zum Sprung an.
Tania und Edric rannten auf der Stelle los.
»Nicht zurückschauen«, keuchte Edric, während sie über den holprigen Boden sprinteten.
»Hast du den Bernstein?«, stieß Tania hervor.
»In der Brusttasche meines Hemds.«
Dann stürzten sie aus der Höhle und in den strömenden Regen hinaus. Die Wolken hingen bis fast zur Erde herunter. Hinter ihnen polterte die Mantigora über die Steine, und bald drang ihr keuchender Atem an Tanias Ohr und das Stampfen ihrer schweren Füße. Das Geräusch kam stetig näher, aber Tania wagte nicht, über die Schulter zu blicken, um nicht zu stolpern oder gar zu stürzen.
»Hier lang!«, rief Edric und wich vom Weg ab. Er war ein Stück vor ihr, als sie die Steilwand erreichten. Der Fels sah im Regen wie zerbrochenes schwarzes Glas aus.
Tania kletterte auf Händen und Füßen den Hang hi-nauf. Grelle Blitze zuckten über den Himmel und hinter ihr bellte das Monster. Sie waren jetzt fast oben; sie mussten nur noch den scharfkantigen Felsgrat überwinden, dann hatten sie es geschafft.
»Jetzt komm schon!«, drängte Edric.
Tanias Fuß rutschte auf dem Geröllsplitt ab. Sie stürzte auf die Knie und schrie auf vor Schmerz.
»Steh auf, schnell!«, brüllte Edric zu ihr herunter. »Sie holt uns gleich ein! Ich muss dich jetzt loslassen. Ich brauche beide Hände für das nächste Stück.« Er ließ ihre Hand los und stolperte über den Kraterrand. Tania rappelte sich auf, nass bis auf die Knochen und völlig durchgefroren.
Hinter ihr ertönte ein tiefes Röcheln. Die Mantigora hatte sie fast eingeholt.
»Tania!«
Als sie hinaufsah, kauerte Edric am Kraterrand und streckte seine Hand zu ihr herunter. Es war wie in ihrem Albtraum, als er sich in Gabriel Drake verwandelt hatte.
Tania zögerte, seine Hand zu nehmen. Der Albtraum schien wahr zu werden.
»Tania!« Edric streckte seinen Arm noch weiter herunter, die Finger gespreizt, und ehe Tania reagieren konnte, verlor er die Balance und purzelte an ihr vorbei den Kraterhang hinunter.
Im letzten Moment schaffte er es, seinen Sturz zu bremsen, doch die Mantigora war nur noch wenige Meter hinter ihm. Mit glühenden Augen stampfte sie durch den Regen und ihr wütendes Bellen übertönte selbst das Donnergrollen.
Tania zögerte nicht. Entschlossen richtete sie sich an dem Steilhang auf, drehte sich um, kämpfte eine Sekunde lang um ihr Gleichgewicht, dann sprang sie hinunter. Mit den Füßen voran knallte sie auf die Mantigora, die gerade Edrics Arm zwischen ihren Kiefern zu zermalmen drohte. Das Monster wurde zurückgeschleudert, aber es fuhr mit einer seiner scharfen Klauen über Tanias Handrücken, dass das Blut nur so hervorspritzte. Die hinteren Klauen der Mantigora scharrten hilflos über die losen Steine, als sie bergab stürzte und wild mit ihrem Skorpionstachel peitschte. Tania knallte mit voller Wucht auf den Hang und konnte sich gerade noch an einem Sims festklammern, sonst wäre sie zusammen mit der Mantigora in die Tiefe gestürzt.
Edric lag der Länge nach am Hang, die Kleider völlig zerfetzt. Hastig rappelte er sich auf und zog Tania hoch. Dann kletterten sie die letzten paar Meter zum Kraterrand hinauf. Oben drehte Tania sich um und spähte durch den strömenden Regen hinunter. Die Mantigora hetzte bereits wieder den Hang herauf, brüllend und zähnebleckend, den grässlichen Stachel hoch aufgerichtet. Edric packte Tania an der
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