Die dunkle Schwester
die Umrisse der Berge ringsum hervortraten. Die Gewitterwolken luden ihre Last über Ynis Maw ab. Es würde eine unruhige Nacht werden.
Als Tania erwachte, war der Himmel mit düsteren rotbraunen Wolken bedeckt, als sei er über Nacht im Regen verrostet. In dem gespenstischen Licht sahen die schwarzen Felsen wie blutige Knochen aus, die aus dicken, geronnenen Blutlachen aufragten. Tania kauerte noch immer am Höhleneingang und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schmerzte. Mühsam stand sie auf, zog ihren Mantel fester um sich und trat ins Freie. Die Felsen ringsum schimmerten in einem feuchten Rot und unter ihren Füßen spritzte dunkelrotes Wasser auf. Vorsichtig spähte sie herum und dachte an die Verbannten. Wie konnten diese armen Geschöpfe nur auf diesem kahlen Felsklotz überleben?
»Und sie haben nicht mal die Chance zu sterben«, murmelte Tania vor sich hin. »Sie leben ewig.« Die Unsterblichkeit des Elfenvolks war nicht immer nur ein Segen, sondern manchmal auch ein Fluch.
Ihr Mund war trocken, und sie griff nach dem Wasserschlauch an ihrer Hüfte, aber der war schlaff und leer. Neben dem Eingang hatte sich unter einem überhängenden Felsen eine kleine Lache gebildet. Das Wasser war dunkel. Tania ging in die Knie, zog den Stöpsel aus ihrer Flasche und schöpfte ein wenig Wasser damit. Als sie sich über die Lache beugte, blickte sie in ihr Spiegelbild.
»Bin das wirklich ich?«, wisperte sie und starrte entsetzt auf die wirren, ungepflegten Haare und die tief liegenden, traurigen Augen. In ihrem Gesicht waren deutlich die erlittenen Schrecken zu lesen.
Tania schwankte, und plötzlich war es, als geriete das Universum aus den Fugen und alles stürzte zusammen.
»Tania?«
Ungläubig starrte sie in die Pfütze. Das Gesicht hatte sich verändert. Es war ihr Gesich t – und auch wieder nicht. Die Lippen bewegten sich und eine Stimme in ihrem Kopf sagte: »Ich bin’s, Tania.«
»Titania?«, rief sie atemlos und beugte sich näher zum Wasser hin.
»Ich versuche euch schon seit vielen Tagen zu erreichen«, sprach Titania aus dem Wasser. »Wo in aller Welt seid ihr?«
»In Ynis Maw«, antwortete Tania. »Ist bei euch alles in Ordnung?«
»Ja, wir sind alle in Sicherheit. Edens Zauber schützt uns.«
»Bei uns läuft alles total schief«, stieß Tania mit bebender Stimme hervor. »Wir sind so weit gekommen, und dan n …«
»Ich weiß, meine Tochter«, sagte Titania beruhigend. »Verzweifle nicht. Ich habe mit Hopie gesprochen, und sie hat mir alles erzählt, was geschehen ist …«
Tania wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber es ist noch viel mehr passiert, seit wir von Hopie weg sind.«
»Erzähle es mir später, wenn ihr wieder zurück seid«, sagte Titania. »Doch jetzt hör zu, Tania, denn ich werde dir ein großes Geheimnis anvertrauen, ja vielleicht das größte im ganzen Elfenreich. Ich wagte nicht, es euch früher zu erzählen, da ich Angst hatte, ihr könntet dem Feind in die Hände fallen.« Sie verstummte einen Augenblick. »Die geheime Bernsteinmine ist auf Ynis Maw.«
Tania starrte in das Gesicht ihrer Elfenmutter, das von der Bewegung des Wassers verzerrt wurde. »Waaas?«
»In der Mitte der Insel befindet sich ein tiefer Krater, dort ist die Mine verborgen. Der schwarze Bernstein dort wird die Bande aus Isenmort um Oberons Gefängnis aufbrechen, und sobald das Isenmort entfernt ist, wird Oberon gewiss stark genug sein, um das Bernsteingefängnis zu zerstören und sich selbst zu befreien.«
Tania schwirrte der Kopf. »Ist das dein Ernst? Die berühmte Bernsteinmine ist wirklich hier?«
»Oh ja, ganz sicher«, versicherte Titania. »Ich wollte es euch schon damals sagen, als wir alle hier zusammensaßen und über den schwarzen Bernstein sprachen. Doch ich habe es nicht gewagt.« Tania erinnerte sich an Titanias ungewohnte Schweigsamkeit, als sie im Jagdhaus beisammen gewesen waren. Daran also hatte sie gedacht! Und Clorimels rätselhafte Bemerkung ergab nun plötzlich auch einen Sinn: Das Blut der Steine ist Nahrung für die Sonne. Oberon war die Sonne und der schwarze Bernstein war das Blut der Steine. Und das Ruderboot diente seit urdenklichen Zeiten dazu, den schwarzen Bernstein aufs Festland hinüberzutransportieren.
»Es wird allerdings nicht leicht für euch sein«, fuhr Titania fort. »Die Mine ist bewacht.«
»Bewacht? Von wem?«, fragte Tania verwirrt.
»Ich weiß nicht«, gab Titania zu. »Es ist schon lange her, dass der König den Wächter berufen hat.
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