Die dunkle Schwester
…
Tania fuhr erschrocken hoch. Der Gedanke an die abtrünnige Schwester ließ sie nicht los, hinderte sie daran, richtig einzuschlafen. Sprach Rathina die Wahrheit oder würde sie ihre Schwestern erneut verraten? Und selbst wenn sie ihre Taten aufrichtig bereute, konnte man ihr je wieder trauen? Eine Frage, auf die es keine Antwort gab, und tief in ihrem Herzen wollte Tania nur eines: dass alle sieben Schwestern wieder vereint und diese schrecklichen Dinge nie geschehen wären. Aber das war nicht möglich.
Die Kerzen im Zelt waren heruntergebrannt, doch an der Stille, die sie umgab, erkannte Tania, dass die Nacht noch nicht vorüber war. Eine Weile lag sie reglos da und starrte zum abschüssigen Zeltdach hinauf. Ihre Angst vor der Schlacht am nächsten Morgen war weniger groß, als sie gedacht hatte. Vielleicht weil der Gedanke so absurd war, eine Elfenrüstung anzulegen und gegen ein Heer von Grauen Rittern ins Feld zu ziehen. Irgendwie glaubte sie noch, dass alles nur ein Traum war, aus dem sie erwachen würde.
Was auf jeden Fall besser wäre, als wenn die anderen sie morgen Früh winselnd vor Angst und völlig handlungsunfähig in ihrem Zelt finden würden.
Tania stand auf und schenkte sich einen Becher Wasser ein. Erquickend und köstlich. Etwas kitzelte ihre Füße, und als sie hinunterblickte, sah sie, dass überall Gras durch den Teppich kam. Der Boden war übersät von Blüten, und an den Zeltwänden rankten sich zarte grüne Winden mit rosa und weißen Blüten hinauf. Es war, als würde die Macht der Sieben ständig zunehmen. Zumindest aber bedeutete es, dass Rathina noch hier sein musst e – ob zum Guten oder Schlechten.
Tania schlüpfte aus dem Zelt und trat in die Nacht hinaus. Das Lager lag still und dunkel unter dem schwimmenden Halbmond. Aus der Ferne drangen Geräusche zu ih r – Pferde, die sich auf ihren Koppeln bewegten. Zwischen den Zeltreihen sah sie Wachen hin- und hergehen. Aus irgendeinem Grund zog sie der Grasstreifen vor Sanchas Zelt magisch an. Ihre Schwester saß auf einem Grasbuckel in der Nähe, die Schultern vorgebeugt, die Augen schläfrig auf den langen Heidehang unter dem Palast gerichtet, dessen flackernde rote Lichter die Dunkelheit durchbrachen.
Tania ließ sich neben ihr nieder. »Kannst du nicht schlafen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht«, seufzte Tania. »Ich kann einfach nicht abschalten.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann wandte Sancha den Kopf. Ihre Augen waren verschattet. »Ich möchte nicht über meine Gedanken sprechen«, murmelte sie. »Nein, ich kann es nicht.«
»Warum nicht?«, drängte Tania, als sie die schimmernden Tränen sah, die über die Wangen der Schwester liefen. »Sancha, was hast du denn?«
»Ich kann es nicht sagen«, schluchzte Sancha. »Es ist zu schrecklich.«
Tania legte einen Arm um ihre Schulter. »Sprich mit mir darüber«, sagte sie sanft. »Bitte!«
Sancha wischte mit dem Ärmel über ihre Augen. »Erinnerst du dich, als wir zusammen in der Bibliothek waren und die Seelenbücher verbrannten?«
»Oh ja.« Und ob sich Tania erinnert e – wie hätte sie je die grässlichen Schreie vergessen können, als die Bücher von den Flammen verschlungen wurden? »Ich weiß, wie sehr dich das getroffen hat, Sanch a … abe r … aber Bücher sind doch nur Sachen. Und die kann man ersetzen.«
»Du verstehst nicht«, sagte Sancha. »In diesen Büchern ist unser ganzes Leben enthalte n – nicht nur die Dinge, die bereits geschehen sind, sondern auch die Zukunft. Die Bücher sprechen zu mir, Tania. Obwohl sonst jedes Buch nur von demjenigen gelesen werden kann, dessen Leben darin enthalten ist, kann ich alle lese n – das ist meine Gab e … und sie wurde mir zum Fluch.«
»Warum zum Fluch?«
»Ich wollte nie die Zukunft aus den Büchern erfahren«, erklärte Sancha. »Ich habe immer Augen und Ohren verschlossen. Doch als die Bücher verbrannten, vernahm ich eine Stimme, die nicht verstummen wollte.« Sie schluckte, und ihre Finger krallten sich in Tanias Arm. »Der Tod schrie aus diesen Seite n …«
Tania zog die Luft ein. »Wessen Tod?«
»Ich darf es dir nicht sagen«, weinte Sancha. »Doch morgen, auf dem Schlachtfeld, wird der Tod eine große Seele mit sich nehmen. Eine geliebte Seele.« Sie stieß Tania von sich. »Geh jetzt, bitte, lass mich allein! Ich habe dir schon zu viel erzählt. Ich werde nicht mehr darüber sprechen. Dir ist es nicht bestimmt, solche Dinge zu wissen.« Damit sprang sie auf und ging in ihr Zelt
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