Die dunkle Schwester
saß neben der geschlossenen Zeltklappe und starrte auf den Boden, wo ein halbmondförmiger Teppich aus kurzem, leuchtend grünem Gras hochschoss. Butterblumen und Gänseblümchen wuchsen darin und öffneten ihre weißen und gelben Blütenköpfchen, als wollte die Natur in Sekundenschnelle die Arbeit von vielen Tagen und Wochen nachholen.
»Hexerei!«, rief Cordelia erbost, sprang auf und griff nach ihrem Schwert. »Das ist die Handschrift von Lyonesse! Sie werden uns in der Nacht überfallen!«
»Nein, Schwester«, sagte Eden und stand ebenfalls auf. »Das ist nicht der To d – sondern Leben. Neues Leben kündigt sich an.«
»Das muss Oberon sein!«, rief Tania und stürzte zum Eingang des Zelts. Aufregt riss sie die Klappe zurück und spähte in die Nacht hinaus.
Eine Gestalt in Umhang und Kapuze stand ein Stück weit vom Zelt entfernt.
»Vater?«, rief Tania zögernd, denn die Figur war zu schmal, zu zierlich für den König. »Wer ist da?«, rief sie mit bebender Stimme.
Die Gestalt trat vor und streifte die Kapuze ab.
»Sei gegrüßt, liebste Schwester«, sagte eine vertraute Stimme, und als die Gestalt in den Lichtschein der Hängelaterne trat, erkannte Tania ihre siebte Elfenschweste r – Prinzessin Rathina.
XXIV
T ania starrte ihre Schwester ungläubig an.
Rathinas einst so schönes Gesicht war totenbleich und mit blauen Flecken übersäht, ihr schwarzes Haar hing ihr zerzaust und glanzlos über die Schultern. Aber das Schlimmste waren ihre leeren, verstörten Auge n – so als habe Rathina in die schlimmsten Abgründe geblickt und darüber den Verstand verloren.
»Ein warmer Willkommensgruß wäre wohl zu viel verlangt«, sagte Rathina mit leiser, müder Stimme, »und dennoch muss ich mit dir sprechen.«
Tania riss sich aus ihrer Erstarrung. »Ich habe dir nichts zu sagen«, entgegnete sie mit bebender Stimme. »Geh! Geh sofort, ode r …«
Tania hörte eine Bewegung hinter sich. »Nein, Rathina«, sagte Eden sanft, aber bestimmt. »Geh nicht! Komm herein, ich bitte dich. Es gibt vieles zu besprechen zwischen uns.« Gebieterisch streckte sie die Hand aus und winkte Rathina zu sich. Rathina verzog das Gesicht und sträubte sich einen Augenblick gegen Edens Zauber, der sie lenkte. Sie hielt die Arme an den Körper gedrückt, ihre Beine waren steif, die Füße baumelten hilflos in der Luft. Tania wich beiseite, als Rathina von der Magie Edens ins Zelt gezogen wurde. Die anderen Prinzessinnen standen da und starrten ihre abtrünnige Schwester an, die jetzt in ihre Mitte schwebte und hochgerissen wurde, sodass sie wie eine Marionette in der Luft hing.
»Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?«, fragte Cordelia.
»Nicht durch Zauberei«, verteidigte sich Rathina mit bebender Stimme. »Von dir, Cordelia, habe ich gelernt, mich lautlos zu bewegen. Weißt du nicht meh r – unsere Wanderungen im Wald, als wir uns an das Wild angepirscht haben? Ich wäre eine schlechte Schülerin, wenn ich deine Lehren vergessen hätte.«
Zara presste ihre Hand auf den Mund und starrte ihre Schwester an. »Wie konntest du nur?«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme. »Wie konntest du nur so entsetzliche Verbrechen begehen?«
Sancha wollte sich hasserfüllt auf Rathina stürzen, aber Hopie hielt sie an den Schultern fest.
»Du hast wahrlich Schlimmes angerichtet, Schwester«, sagte Hopie zu Rathina. »Bist du gekommen, um Buße zu tun und den Schaden wiedergutzumachen, oder willst du nur über uns triumphieren?« Ihre Augen wurden schmal. »Oder bist du gar eine Sendbotin des Hexenkönigs und wurdest zu uns geschickt, um uns mit falschen Friedensangeboten den Verstand zu vernebeln?«
»Nichts von alledem!«, rief Rathina. »Ich bin gekommen, um euch um Gnade zu bitten.«
»Gnade?«, fauchte Sancha. »Wie kannst du es wagen, du Verräterin, die nichts als Zerstörung, Not und Elend über unser Land gebracht hat? Sag, wie viele Tote hast du auf dem Gewissen? Mit wie viel unschuldigem Blut hast du deine Seele befleckt? Du wirst hier keine Gnade finden. Läge es in meiner Macht, so würde ich dich vernichten und deine Asche in alle vier Winde zerstreuen.«
»Frieden, Sancha!«, sagte Eden.
Sancha fuhr wütend zu ihr herum. »Frieden? Ihretwegen ist meine Bibliothek abgebrannt und unsere Seelenbücher haben sich in Asche verwandelt.« Ihre Stimme wurde ganz schrill. »Diese Elende hat unsere Seelenbücher zerstört!«
Hopie legte ihren Arm um Sancha, die jetzt hemmungslos schluchzte, und zog sie weg.
Tania
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