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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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erwachte, weil sie jemand grob anstieß. Sie schlug die Augen auf und sah Pias großes Gesicht über sich. »Das reicht jetzt«, fauchte sie.
    Lucille verstand nicht. Erst als sie die Hand auf ihrer linken Brust spürte und den dicken Mann neben sich liegen sah, begriff sie. Sie faßte den schlaffen Arm und ließ ihn neben sich fallen wie einen ausgewrungenen Putzlappen. Edwin schnarchte weiter.
    »Gewisse Leute lassen keine Gelegenheit aus«, schimpfte Pia. Der Vorwurf galt Lucille. Sie mußte lachen.
    Das Lachen erinnerte sie an Blank. Sie schaute sich im Tipi um. Hier war er nicht. Sie ging hinaus. Joe und Susi saßen im Gras und rauchten einen Joint. »Habt ihr Urs gesehen?«
    »Ich glaube, er ging irgendwann mal raus.«
    Lucille erinnerte sich. »Wann war das?«
    »Schon länger«, sagte Joe und schaute zum Wald hinüber, aus dem bereits die Dämmerung kroch.
    »Weit kann er nicht sein«, sagte Joe immer wieder. Es war Lucille gelungen, die ganze Gruppe zur Suche nach Urs zu überreden. Joe hatte sich zuerst auf den Standpunkt gestellt, daß jeder auf eigene Gefahr gehandelt habe. Aber als Lucille damit drohte, jeden einzelnen von ihnen anzuzeigen, falls Urs etwas passierte, gingen sie widerwillig mit.
    Als es dunkel wurde, hatten sie sich in drei Suchtrupps aufgeteilt. So viele, wie sie Taschenlampen besaßen. Die Weisung lautete, daß jeder Trupp immer den Lichtkegel eines anderen Trupps in Sichtweite haben und sich beim ersten Anzeichen, daß die Batterie schwächer wurde, mit den anderen zusammenschließen mußte.
    Vor zehn Minuten waren Edwins Leute zu Joe und Lucille gestoßen. Ihre Lampe brannte nur noch schwach. Edwin und Pia schnauften beide und verwünschten Blank und Joe und Shiva und die ganze Organisation.
    Joe und Lucille waren wortkarg geworden. Sie versuchten, den Lichtkegel im Auge zu behalten, der hundert Meter weiter zwischen den Stämmen tanzte. Ab und zu hörten sie Benny oder Shiva Urs’ Namen rufen.
    Die Rufe verstummten. Der Lichtkegel kam auf sie zu. Lucille rannte ihm entgegen.
    »Habt ihr ihn?« fragte sie, als Benny und Shiva sie erreichten.
    »Die Batterie geht zu Ende.«
    Das Grüppchen folgte Joe zurück zur Lichtung. »Bestimmt ist er schon lange dort und fragt sich, wo wir bleiben«, vermutete Joe. Lucille war fest entschlossen, die Polizei zu alarmieren, falls Joe sich irrte.
    Das Tipi stand im fahlen Schein der Mainacht auf der Lichtung wie ein umgestülpter Trichter. Kein Licht brannte. Lucille nahm Joes Taschenlampe und rannte los.
    Sie leuchtete in jeden Schlafsack und unter jede Decke. Von Blank keine Spur.
    »Nicht hier«, sagte sie leise, als die anderen kamen.
    Plötzlich drang ein Geräusch in die betretene Stille. Wie das Winseln eines Nachttiers. Lucille ging hinaus. Es kam von der Schwitzhütte. Sie rannte hin und schlug die Decke vor dem Eingang beiseite.
    Im matten Licht der verbrauchten Taschenlampe sah sie Blank am Boden kauern. Sein Gesicht, seine Hände, seine Schuhe, seine Kleider waren erdverkrustet. Er weinte wie ein kleiner Junge.
    Urs Blank konnte sich nicht erinnern, wie er zur Lichtung zurückgelangt war. Als er zu sich kam, saß er auf einem Baumstrunk, an einen schwarzen, feuchten Findling gelehnt. Das Unterholz bildete einen respektvollen Halbkreis vor ihm. Weiter hinten, in der beginnenden Dämmerung, schlossen ein paar jüngere Tannen und Fichten zum Halbkreis auf.
    Blank fühlte sich schwer. Aber er war wieder genug bei Sinnen, um zu wissen, daß er hier nicht bleiben konnte. Er wußte noch, daß er aufgestanden war, und er erinnerte sich noch an einen glitschigen Hang, den er immer wieder hinuntergerutscht war.
    Dann saß er auf einmal in der Schwitzhütte. Die von ihm befohlenen Metamorphosen der Natur und der Menschheit spielten sich noch einmal vor ihm ab. Aber diesmal konnten es keine Halluzinationen sein. Er wußte, wer und wo er war, und sah alles noch einmal so dreidimensional und realistisch wie die Welt selbst.
    Die Einsicht wurde noch deutlicher und noch unanfechtbarer als beim ersten Mal.
    Wieder löschte er alles mit der gleichen Ungerührtheit aus, mit der er es hatte entstehen und sich verändern lassen. Als er damit fertig und als einzige Wirklichkeit übriggeblieben war, überfiel ihn ein Gefühl nie gekannter Einsamkeit.
    Auch als ihn Lucille weinend in der Schwitzhütte fand, war er nicht zu trösten. Wie sollte ihn jemand trösten, den er durch einen einzigen Lidschlag entstehen und vergehen lassen konnte?
    Lucille machte sich

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