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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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bewegen. Er war wie Gulliver mit tausend kleinen Seilen festgepflockt. Das Werk der Wiesenwichte, kleine, borstige, leuchtgrüne Wesen mit Saugnäpfen an den Füßchen.
    Er war kurz davor, mit ihnen in Kommunikation zu treten, als jemand über ihn stolperte und laut zu lachen und lärmen anfing. Die Wiesenwichte stoben in alle Richtungen davon.
    Der Lärm hörte erst auf, als er sich von den Pflöckchen riß und dort hinschlug, wo er herkam.
    Er stand auf und ging der Stimme nach, die ihn rief.
    Als Lucille ins Tipi zurückkam, blutete sie aus der Nase. Das sah so komisch aus, daß Susi laut lachen mußte.
    Als die anderen sahen, weshalb sie lachte, stimmten sie ein. Sie lachten und lachten, bis auch Lucille lachen mußte. Nur der dicke Edwin lachte nicht. Er stand auf und stieß Shiva an. »Ich dachte, Sie seien die Reiseführerin. Einer der Touristen hat sich verirrt, hören Sie doch.«
    Beim Wort »Reiseführerin« mußten alle noch mehr lachen. Da schrie der dicke Edwin: »Still!«
    Alle gehorchten.
    Jetzt hörte man draußen die Schellentrommel, die sich langsam entfernte.
    »Kein Rhythmus im Arsch«, murmelte Benny, der Straßenmusiker. Jetzt lachten wieder alle los.
    Im Wald herrschte hoher Wellengang. Woge um Woge kam der Waldboden auf Blank zu. Aber sie brachten ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Auch jetzt nicht, als sie die Farben änderten. Eine neongrüne Welle folgte einer phosphorgelben, einer saphirblauen, einer karminroten. Und die Bäume tanzten dazu, wie Bojen im aufgewühlten Meer. Blank ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Tschirrtamtam, tschirrtamtam« machte seine Schellentrommel.
    Die moosigen Wellen nahmen den Takt auf, die Tannen und Fichten wiegten sich darin. Und änderten ihre Gestalt. Wurden untersetzt und schlank, eckig und rund, dreidimensional und flach. Ganz wie sie wollten. Nein. Ganz wie Urs wollte. Er zwang sie, die Form anzunehmen, die er ihnen zudachte. Und die Farbe. Sie duckten sich pink und blähten sich aquamarin. Sie verwandelten sich in Echsenfrösche, Rehhasen, Schwalbenschnecken und Fuchsgemsen.
    Blank hatte sich den Wald unterworfen.
    Im Tipi lief Dark Side of the Moon. Lucille konnte David Gilmour nicht nur hören, sie konnte ihn sehen. Er sprach mit ihr. Er bewegte sich wie eine Flüssigkeit.
    Urs Blank kam ihr in den Sinn und sein fehlender Sinn für Rhythmus. Aber statt eines Lachanfalls überfiel sie diesmal eine tiefe Traurigkeit. Sie mußte weinen. »Urs«, stammelte sie zwischen Schluchzern. »Urs.«
    Jemand robbte zu ihr heran und legte den Arm um sie. Eine Hand tastete sich in den Ausschnitt ihrer Bluse.
    Die einzige Wirkung, die Edwin spürte, war, daß es ihm egal war, daß er nichts spürte. Die anderen waren alle weggetreten. Pia lächelte selig mit geschlossenen Augen und sagte immer wieder »schau«. Die alte Shiva streichelte den jungen Benny. Susi kicherte. Joe ging in der psychedelischen Musik auf. Der Anwalt war zum Glück verschwunden. Die hübsche Lucille fing an zu weinen.
    Edwin robbte sich an sie heran.
    Urs Blank saß auf einem weichen grünen Thron. Um ihn versammelt: die Menschheit. Abrufbar. Jeder und jede, die er kannte, nahmen Gestalt an. Und zwar die Gestalt, die er wollte.
    Ein Lidschlag, und Dr. Fluri grunzte als Schwein herbei. Ein Atemzug, und Halter + Hafner zitterten als Gelatine vor ihm. Er verwandelte Anton Huwyler in einen Pavian, Ruth Zopp in eine Ziege, Christoph Gerber in Schleim, Niklaus Halter in einen Klumpen Teig. Er probierte Pflanzen aus: Moos für seinen Partner Dr. Geiger, Farn für Evelyne Vogt, Tanne für Alfred Wenger. Und er probierte Sachen aus: Hans-Rudolf Nauer wurde zu Erde, Pius Ott zu Stein, Lucille zu heißer Luft, die über sonnenbeschienenen Teerstraßen flimmerte.
    Alle winselten um ihr Leben. Aber alle löschte er aus. Ohne Mitleid, ohne Vergnügen. Ohne die geringste Gemütsregung.
    Urs Blank war in eine neue Dimension getreten. Alles war ihm plötzlich klargeworden. Er hatte die letzte Einsicht gewonnen.
    Alles, was er bisher getan, gedacht, gelernt und gefühlt hatte, beruhte auf einem einzigen, gewaltigen Irrtum. Gut, böse, falsch, richtig, schön, häßlich, ich, du, mein, dein: alles Werte einer Skala, die die große, letzte Wahrheit außer acht ließ: Es gibt keine Vergleichsgrößen. Weil es nichts gibt. Es existiert nur eine einzige Wirklichkeit: Urs Blank.
    Diese Erkenntnis war so überwältigend und doch so einfach. Kaum zu glauben, daß er so lange dafür gebraucht hatte.

5
     
    Lucille

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